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Wiedersehen in Santiago

Wir verbringen noch einige sonnige Tage an der Küste, verabschieden uns dann – diesmal aber wirklich endgültig – vom Pazifik und fahren weiter in die chilenische Hauptstadt, um uns mit Brigitte und Celi vor ihrer Abreise nach Spanien noch zu treffen.

Die Birnchen unseres Abblendlichtes sind auf beiden Seiten durchgebrannt oder Opfer von Rappelpisten geworden, und da ein eingeschaltetes Abblendlicht in den südamerikanischen Staaten auch am Tag obligatorisch ist, fahren wir zunächst die Mercedes-Werkstatt an. Hier kennt man uns noch von unserem ersten Besuch; wir bekommen Ersatzbirnchen und man bietet uns eine kostenlose Wagenwäsche an, die wir sehr gerne in Anspruch nehmen. Zu zweit und mit großen Schrubbern bewaffnet bemüht man sich, die dicken Schichten patagonischen Luxusdrecks der letzten Wochen und Monate abzukratzen. Die Mühe lohnt sich: Der Wagen sieht danach aus wie mit Perwoll gewaschen.

Ein mit Brigitte und Celi befreundetes Ehepaar ist so freundlich, uns ihr wunderschönes Haus als Treffpunkt zur Verfügung zu stellen. Brigitte und Celi sehen blendend aus und freuen sich genauso über das Wiedersehen wie wir, unsere aus der Schweiz stammenden Gastgeber Beate und Guntram sind äußerst liebenswert, und so beschließen wir, den Abend gemeinsam in einem trendigen Restaurant zu verbringen. Die Fahrt dorthin führt vorbei an den modernen Hochhäusern, die wie illuminierte Reagenzgläser in den nächtlichen Himmel Santiagos ragen. Nach so viel „wildem Outdoor-Leben“ sind wir die städtische Schickeria gar nicht mehr gewohnt, aber das anfangs etwas befremdliche Gefühl gibt sich mit dem ersten Pisco Sour und wir genießen hemmungslos die maritimen Leckereien. Mit Meeresfrüchten gefüllte empanadas und Thunfischtartar als Vorspeise, danach mit Seespinne gefüllte Canelloni an cremiger Krebssauce – göttlicher geht nicht! Schon wenn ich daran denke läuft mir das Wasser im Mund zusammen…

Am nächsten Morgen heißt es für alle Abschied nehmen. Mit dem Versprechen, uns in Europa zu treffen, trennen sich unsere Wege. Für Brigitte und Celi geht es zurück nach Spanien, und wir brechen mit dem Ziel Mendoza Richtung chilenisch-argentinische Grenze auf.

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Östlich von Los Andes steigt die Ruta 60 zunächst in sanften Kurven, dann immer steiler an. In über dreißig atemberaubenden Serpentinen geht es den Berg hinauf; die LKW am Hang gegenüber sehen wie Spielzeugautos aus.

Kurz vor der Grenzstation erstreckt sich auf 2.800 Metern das Skigebiet Portillo, welches mit Abfahrten aller Schwierigkeitsgrade und einem Luxushotel angeblich zu den zehn besten der Welt zählt. Jetzt im Sommer ist alles geschlossen.

Auf 3.200 Metern Höhe führt ein drei Kilometer langer, zweispuriger und diffus beleuchteter Tunnel durch die Anden auf die argentinische Seite, wo alle Grenzformalitäten an einer gemeinsamen Station – eine Art Drive Through – mit Chile durchgeführt werden. Bisher hatten wir bei unseren Grenzüberquerungen nach Argentinien immer Glück, aber diesmal kassieren sie unsere frischen Lebensmittel ein.

Auf der Ostseite der Anden fällt die Straße dann über viele Kilometer sanft bergab. Ab und an blitzt die schneebedeckte Silhouette des Aconcagua im Hochgebirge auf, des mit 6.959 Metern höchsten Gipfel Südamerikas. Bis Mendoza liegen jetzt noch zweihundert Kilometer vor uns.

Beschwingt unterwegs

Auf unserem Weg nach Santiago liegt das Valle de Colchagua, aus welchem die meisten aller preisgekrönten chilenischen Tropfen stammen. Hier, nicht weit vom Meer entfernt, gibt es genügend Feuchtigkeit und im Sommer brennt die Sonne über Monate unbarmherzig. Ideale Bedingungen für feine Weine. Rund zwanzig Weingüter produzieren in dieser Region mit der Devise Klasse statt Masse vollmundige und samtige Rotweine aus den Rebsorten Cabernet-Sauvignon und Merlot und der in Europa durch die Weinpest Mitte des 19ten Jahrhunderts ausgestorbenen kräftigen Sorte Carmenère.

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Europäische Winzer wurden ob der wachsenden neuen Konkurrenz aus dem Land hinter den Anden hellhörig. Bevor man Anteile am Weltmarkt riskiert geht man doch lieber mit dem Feind ins Bett. Besonders französische Weingüter erkannten die Qualität und das große Potenzial der chilenischen Weine und kauften sich bei alteingesessenen Bodegas ein, wie zum Beispiel bei der Bodega Clos Apalta der Vina Lapostolle, die wir uns für eine Weinprobe ausgesucht haben und die mit dem Slogan wirbt „French in Essence, Chilean by Birth“. Cyril de Bournet und seine Frau Alexandra Marnier Lapostolle, die Nichte des Likör-Herstellers Alexandre Marnier Lapostolle (Grand Marnier), kauften 1994 eine alte bestehende Vina zweihundert Kilometer südlich von Santiago und führen diese seitdem unter streng biologischen und biodynamischen Gesichtspunkten. Der Zertifizierungsprozeß unter der Kontrolle eines deutschen Instituts dauerte allein sieben Jahre.

Die moderne Bodega auf altem Grund und mit alten Reben ist ein architektonisches Meisterwerk. Sie wurde in einen großen Granitfelsen hineingesprengt, ist mit sechs Etagen insgesamt 25 Meter tief und arbeitet ausschließlich mit Schwerkraft, so daß der Most ohne Pumpen in den Weinkeller gelangt. Dank ihrer besonderen Architektur überstand die Bodega bisher jedes noch so schwere Erdbeben. Umliegende Kellereien im klassischen Stil erlitten dagegen so schwere Schäden, daß sie bis zu einem Jahr Ausfallzeit überstehen mussten.

Von der höher gelegenen Bodega schaut man auf die Weinfelder. Die Trauben von Vina Lapostolle werden über einen Erntezeitraum von zwei Monaten Sorte für Sorte handgepflückt, dann von achtzig Frauen handverlesen und anschließend in große Behälter gegeben, die wiederum in voluminöse Eichenfässer gekippt werden. Allein durch ihr Eigengewicht und die Schwerkraft werden die Trauben entsaftet. Insgesamt wird auf diese Weise ein Rotwein produziert, der nicht in modernen Edelstahlbehältern reift, sondern in 450 Fässern aus französischer Eiche. Diese befinden sich tief im Fels auf Etage 3 und 4 und der Wein ruht hier zwei Jahre. Der abschließenden Qualitätskontrolle halten schlussendlich dann gerade einmal 250 Fässer stand, die dann als Spitzenwein Clos Apalta in den Handel kommen.

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Nach dem wir uns im „Felsenturm“ Etage für Etage heruntergeschraubt haben findet im fünften Stock die Weinverkostung statt. Als wir den stimmungsvoll illuminierten Raum betreten haben wir das Gefühl, in einem Planetarium zu sein. Die Decken sind aus gewölbtem Naturholz, ins Holz eingelassene kleine Lämpchen leuchten dezent wie ein Sternenhimmel und die schlichten Eichenfässer mit dem eingebrannten „Lapostolle“-Zeichen geben der Weinprobe einen wunderschönen Rahmen.

Wir verkosten drei Weine, die Proben sind üppig bemessen, und besonders der Clos Apalta ist merklich ein Schwergewicht. Hier beim Erzeuger kostet die Flasche USD 120. Auch bei dem stolzen Preis: Nur vom Clos Apalta allein kann die Vina Lapostolle nicht leben, daraus macht das Familienunternehmen auch keinen Hehl. Ganz offen erzählt man uns, daß der Gewinnbringer ein nahegelegenes, ebenfalls zum Unternehmen gehörendes Weingut ist, welches pro Jahr 2,5 Millionen Flaschen Rotwein mit dem Handelsnamen Cuvée Alexandre und einen Weißwein Casa Gran Reserva für den Massenmarkt produziert.

Im sechsten und letzten Stockwerk der Kellerei und über eine indirekt beleuchtete Treppe im Boden ist der ganz private Weinkeller der Marnier Lapostolles untergebracht. Hier ruhen einige besondere gustatorische Schätze, sehr alte Cabernets und Carmeneres. Für uns heißt es leider: Betreten verboten.

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Als wir nach der Besichtigung beschwingt die Vina verlassen wartet am Fuße des Weinberges eine Überraschung auf uns – die Polizei. Vorsätzliche Alkoholkontrolle, das hat als krönender Abschluß noch gefehlt. Ich lege mir schon auf Spanisch eine halbswegs glaubwürdige Erklärung für unsere kaum zu ignorierende Fahne zurecht, aber es kommt dann anders: Ein Wagen ist von der staubigen Straße abgekommen und mit Blechschaden im Graben gelandet. Die Polizei ist nur der Freund und Helfer … und wir fahren winkend und lächelnd vorbei.

Valdivia

Von Pucon rutschen wir quer durch Chile an die Pazifikküste bis Valdivia, welches wunderschön an dem Zusammenfluß zweier Flüsse liegt, die dann vereint als Rio Valdivia in den Ozean münden. 1960 wurde die Stadt durch ein Erdbeben mit der Stärke 8,9 zu achtzig Prozent zerstört und sackte um drei Meter ab, der Tsunami schleuderte Schiffe auf den Strand und veränderte die Landschaft bis weit ins Landesinnere nachhaltig. Am Ufer des Rio Valdivia liegen der kleine Flusshafen und der mercado fluvial, der Flußmarkt, auf dem es viele Arten von Fisch und Meeresfrüchten gibt, unter anderem auch ceviche, in Limettensaft gebeizter roher Fisch, und erizo, die frischen Seeigelzungen. Im Hintergrund der Fischhändler dösen gewichtige Seelöwen gemächlich auf Pontons im Fluß und kommen nur kurz in Schwung, wenn die Fischhändler beim Zerlegen der Fische Köpfe und Schwänze über ihre Schultern entsorgen.

An der kleinen Promenade entlang des Flusshafens entdecken wir einen hohen Turm aus Glas, der ein Foucaultsches Pendel beherbergt, welches hier seine ausschließlich durch die Erdrotation bewegten Kreise in feinem Sand zieht.

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Wir fahren weiter die Küste hinauf, aber aufgrund der sommerlichen Hochsaison bevölkern Menschenmassen die Strände und Ortschaften – Playa del Ingles auf chilenisch. Mit ein bisschen Sucherei und Rumpelei über Pisten finden wir dann doch noch ein paar einsame Stellplätze etwas außerhalb der touristischen Hochburgen und genießen Traumausblicke auf die Brandung des Pazifik.

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Jetzt, im Hochsommer, ist die Sonne stark genug, den über dem Meer liegenden Schleier aus Nebel in den Morgenstunden zu schmelzen.

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Nacht auf dem Vulkan

Um den schönsten Vulkan Chiles und seine ihn umgebenden Wälder zu schützen wurde bereits 1940 der über 60.000 Hektar große Parque Nacional Villarica eingerichtet. Der Vulkan, an dessen Flanke auch ein Skigebiet samt Liftanlage liegt, ist 2.840 Meter hoch; die Baumgrenze liegt bei 1.500 Metern. Hier findet sich der nördlichste Bosque Valdiviano, der kalte, immergrüne Regenwald Südchiles.

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Wir vertrauen der Vulkanampel im Ort, die die seismischen Aktivitäten des Villarica misst und auf grün steht, und wollen die Nacht auf dem Vulkan verbringen. Nicht etwa, weil wir den Nervenkitzel glühender und blubbernder Magma und die latente Gefahr eines Ausbruchs als Kick benötigen, sondern weil wir eine spektakuläre Aussicht von dort oben erwarten. Wir fahren bis zur Bergstation des Skiliftes, erst ist die Straße ein Stück asphaltiert, aber die letzten acht Kilometer bestehen aus wüster Piste durch Wald und graue Lavafelder.

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Wir haben uns nicht getäuscht, der Panoramablick ist atemberaubend. Im Tal tief unter uns der große, kristallklare See, umgeben vom Grün der Wälder, in den verblassenden Strahlen der untergehenden Sonne leuchtet in der Ferne der schneebedeckte Gipfel eines weiteren Vulkans, des 3.125 Meter hohen Llaima.

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Die Nacht ist ruhig und sternenklar, und auch am nächsten Morgen pustet der Villarica gelassen seine weißen Rauchkringel in den ungetrübt blauen Himmel über unseren Köpfen.

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Deutschtümelei

Wir überqueren die Grenze am Paso Mamuil Malal ganz unkompliziert und schwupps sind wir wieder in Chile. Zum sechsten oder siebten Mal? Das  ist doch nun wirklich egal, oder?

Nächstes Ziel sind Pucón und Villarica am gleichnamigen See und Vulkan. Die Fahrt dorthin führt durch kleine hübsche Ortschaften mit bunten Häuschen und einladend ausschauenden Restaurants. Als uns am frühen Nachmittag im Vorbeifahren plötzlich das Wort Apfelkuchen anspringt ist unser Widerstand gebrochen und wir legen einen spontanen Genußstopp ein. Der Besitzer des Cafés bedient uns mit der gewohnten Herzlichkeit der Chilenen und bringt uns zwei pizzagroße Stücke herrlichen Apfelkuchens. Bei einem Schnack erfahren wir, daß die Großeltern seiner Frau aus Deutschland stammen und der Kuchen nach uraltem Familienrezept gebacken wird.

Gestärkt fahren wir weiter nach Pucón zu Füßen des aktiven Vulkans Villarica, der mit seinen symmetrischen Flanken, dem weißen Schneekragen und dem ewigen Rauchwölkchen von ebenmäßiger Schönheit ist und eine faszinierende Kulisse bildet.

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Pucón mit seinen rund 13.000 Einwohnern liegt am Ostufer des Lago Villarica und ist eine touristische Hochburg für Trekking, Bergsteigen, Rafting und Skifahren, ist aber im Vergleich zu dem argentinischen Bariloche oder benachbarten Villarica ein Nest. Dank strenger Bau- und Werbevorschriften – Geschäfte dürfen nur mit Holzschildern werben – wirkt das Stadtbild harmonisch. Im Zentrum haben sich zahlreiche Restaurants angesiedelt, so auch der Biergarten von Elke und Ulli aus Deutschland, die hier seit fünf Jahren ansässig sind.

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Da wir heute offenbar unseren nostalgischen Tag haben fallen wir dort ein und als wir dann auf der Speisekarte neben selbstgebrautem Weizenbier auch noch Currywurst mit Pommes entdecken gibt es kann Halten mehr. Die erste Currywurst – um ehrlich zu sein, es sind gleich zwei – nach über einem Jahr schmeckt herrlich und auf das erste Bier folgt ein weiteres.

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Wir kommen mit Elke, die stilecht im weiß-blauen Dirndl serviert, ins Gespräch. Ihre Klagen unterscheiden sich nicht wesentlich von denen eines Gastwirtes in Deutschland: Die Angestellten sind unzuverlässig, nicht mehr so belastbar, die Leute geben nicht mehr so viel Geld wie früher aus… Egal, wir genießen unseren Tag Heimaturlaub vom Reisen, deutschtümeln von Herzen und futtern uns rund.

Türme des blauen Himmels

Vor uns liegt ein Highlight unserer Reise, auf das wir uns sehr freuen, der Parque Nacional Torres del Paine. Wir entscheiden uns, über den südlichen Zugang nahe des Lago Toro in den Nationalpark zu fahren und ihn über den nordöstlichen zu verlassen, um dann in Cerro Castillo gleich nach Argentinien auszureisen. Von Villa Telhuelche aus führt die Fahrt über Schotterpiste an der Höhle eines Milodóns vorbei, eines urzeitlichen Riesenfaultiers mit 3,5 bis 4 Metern Größe. Da der Kleine aber nicht zuhause ist fahren wir weiter.

Die Landschaft ist atemberaubend. Hier trifft die patagonische Pampa auf die Gipfel der südchilenischen Anden, steil aufragende Berge mit spitzen Granittürmen. Der höchste Berg ist der Cerro Paine Grande mit 3.050 Metern, umgeben von den Spitzen des Paine Chico, der Torres del Paine und der Cuernos del Paine – den „Hörnern“. Die Landschaft erinnert uns von Ferne ein wenig an die Dolomiten, ausgestanzt und in die abgeernteten strohgelben Felder der holsteinischen Seenplatte gesetzt.

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Noch außerhalb des Parks finden wir weit abseits der Straße einen Stellplatz oberhalb des Lago Toro. Die Rumpelei durch den Wald und den Hang hinauf lohnt sich; das Panorama ist unbezahlbar.

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Auf der einen Seite der Blick über den türkisfarbenen See, den Wald und das Bergmassiv, auf der anderen Seite auf die karge Pampa, über der sich in der untergehenden Sonne Lentis bilden, die wie außerirdische Ufos über dem See zu schweben scheinen.

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An der Porteria Serrano fahren wir am nächsten Tag in den Nationalpark. Paine bedeutet in der Sprache der Telhuelche-Indianer „himmelblau“, Torres del Paine also „Türme des blauen Himmels“.

Weite Teile des Parks sind vergletschert. Im Westen schiebt der Tyndall Gletscher seine Zunge in den See gleichen Namens; im Lago Grey etwas weiter nordöstlich schickt der Grey Gletscher weiß-blaue Eisberge auf Reise. Wir wandern zu einem kleinen Aussichtpunkt mit Blick auf den Gletscher und den See, und wie schon beim O´Higgins Gletscher fegt hier der Wind von den Bergen über den Gletscher hinweg talwärts, lädt sich an den Eismassen mit Kälte auf und pustet uns fast um.

P1220045Vor langer Zeit war die gesamte Region unter Gletschern begraben; was wir heute noch sehen können sind nur die kümmerlichen Reste des ursprünglich riesigen patagonischen Eisfeldes. Der O´Higgins-Gletscher, den wir mit dem Boot besucht haben, hat allein im Zeitraum 1986 bis 2010 insgesamt 70 qkm seiner Fläche eingebüßt und sich um sechzehn Kilometer zurückgezogen, daß entspricht rund zehn Prozent seiner Fläche.

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Unterhalb des verschneiten Paine-Massivs liegen zahlreiche türkisfarbene Seen und Lagunen malerisch eingebettet in Wiesen, Moore und alte Wälder. Auch wenn dies hier die Luvseite der Anden ist, kann das Wetter innerhalb von Minutenschnelle umschlagen, unvermittelt von Sonnenschein zu Hagelschauer oder Kälteeinbrüchen wechseln. Wir haben Glück und erwischen einen der wenigen beständigen klaren Tage im Jahr mit viel Sonne, blauem Himmel und Windstille. Immer wieder halten wir an, um zu Staunen. Dann entdecken wir vor dem Weiß des Bergmassives einen schwarzen Punkt. Es ist ein Kondor, der hier mit gespreizten Schwingen seine Kreise zieht. So plump die Kondore sich am Boden bewegen, so majestätisch sind sie in der Luft.

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Durch den 242.000 Hektar großen Park führen Schotterpisten mit vielen Steigungen und blinden Kurven. Je weiter wir das Bergmassiv umfahren desto mehr öffnet sich der Ausblick auf die Torres und Cuernos. Die Waldbrandgefahr ist während der Sommerzeit immens hoch und an vielen Stellen trifft man auf Warntafeln. Immer wieder haben in der Vergangenheit Touristen durch Unachtsamkeit verheerende Brände verursacht, zuletzt zur Jahreswende 2011/12, als innerhalb von wenigen Tagen über 17.000 Hektar im zentralen Teil des Parks abbrannten. Das Gesetz ahndet das Anzünden von Feuer mit drei Jahren Haftstrafe und einer Geldbuße in Höhe von 4.000 USD. Verursacht man einen Waldbrand, droht eine Haftstrafe von fünf Jahren und zusätzlich eine Geldstrafe von 16.000 USD.

Abends finden wir einen Stellplatz in einem kleinen ausgetrockneten Wasserloch, Panoramablick auf die nadelspitzen Granittürme inklusive. Als wir am nächsten Morgen beim Frühstück sitzen hören wir draußen plötzlich wildes Getrappel, dann wird es vor den Fenstern staubig. Wir sind von einer großen Guanaco-Herde mit vielen Jungtieren umlagert und die rund fünfzig Tiere lassen sich ohne Scheu unmittelbar neben dem Wagen nieder, wälzen sich im Staub und beäugen uns interessiert.

Nach kurzer Zeit hält den Grzimek in mir nichts mehr … ich muß raus aus dem Wagen. Ich achte darauf, tunlichst nicht zwischen die Tiere zu geraten, was nicht so leicht ist, da viele zwischen dem Büschelgras liegen und mit ihrer hellbraunen Fellfärbung schlecht zu erkennen sind. Prompt kommen hinter mir plötzlich zwei Hengste in halsbrecherischem Galopp, mit dem Kopf auf dem langen Hals Schwung holend, angejagt. Es ist Brunftzeit und die Tiere sind außer Rand und Band, da komme ich ihnen lieber nicht in die Quere.

Das Wetter hält sich überraschend gut und wir würden in dieser wunderbaren Landschaft gerne noch länger verweilen, aber nach ein paar Tagen müssen wir weiter.

Auf dem Weg aus dem Park Richtung Cerro Castillo sehen wir wieder einige Kondore, zunächst in der Luft, dann später mit Jungvögeln auch am Boden, wo sie sich am Kadaver eines Guanacos gütlich halten, während sein Artgenosse zusieht.

Volksfest

Zufällig passieren wir an einem Wochenende das kleine Dorf Villa Tehuelches an der Ruta 9. Schon von weitem sehen wir, daß die Straßen mit Bussen und Autos zugeparkt sind. Rauchfahnen hängen über dem Ort und verbreiten ein Aroma, welches uns augenblicklich das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Wir halten an, bugsieren den Mog über hohe Bordsteinkanten auf eine freie Grasfläche und mischen uns unter die Menge.

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Die nächsten Stunden verbringen wir mit Rodeo, bei dem es nicht gerade zimperlich zugeht, und musikalischen Vorführungen mit Tanz. Eine eigenwillige Mischung aus Tony Marshall und Ricky Martin, in einen glänzenden, für seine runde Körpermitte viel zu engen Anzug mit Kummerbund geschossen, unterhält lautstark und erfolgreich die Massen. Auch ein Schafscheerwettbewerb steht auf dem Programm, wobei die Schafe anschließend nicht unbedingt hübscher aussehen.

Überall stehen kleine und große Grills, auf denen Lamm oder auch ein ganzes Rind gebraten werden. Definitiv kein Ort für Vegetarier.

Punta Arenas

Wir verlassen den spitzen Zipfel Südamerikas und fahren mit den Ziel Punta Arenas zurück über die PanAm Richtung Norden. In Rio Grande, der, wie wir jetzt wissen, Welthauptstadt der Forelle, füllen wir Tanks und Kühlschrank auf und lernen im Supermarkt Jamie kennen, einen sehr sympathischen Briten, der in Schleswig-Holstein lebt und für ein belgisches Unternehmen unter anderem in Südamerika Unterwasser-Pipelines verlegt. Global Business. Sechs Wochen Arbeit, dann sechs Wochen Urlaub in der Heimat. Die Bezahlung ist Spitze, die Unterbringung im besten Hotel der Stadt ebenfalls gut, nur mit der Arbeitsmoral der Argentinier hapert es ziemlich, so klagt er uns sein Leid. Fehlt bei der Lunch-Versorgung mal ein Tütchen Mayonnaise, dann wird unerbittlich drei Tage gestreikt.

Wir übernachten am Grenzübergang San Sebastian neben den Zollhäuschen und rutschen am nächsten Tag rüber nach Chile. Hier endet der Asphalt und die Straße geht bis Porvenir in eine Schotterpiste über, die entlang der bahia inutil, der unnützen Bucht, bis an die Küste der Magellanstraße führt. Der ewige Wind Feuerlands fegt wie immer ungebremst über die lichte, fast gänzlich unbesiedelte Steppenlandschaft. Unsere Helden sind die Radfahrer, denen wir hier auf Feuerland immer mal wieder begegnen. Manche fahren nur eine kleine, aber nicht weniger anstrengende Teilstrecke, andere befahren die gesamte Strecke von Prudhoe Bay bis Ushuaia. Mit Minimalgepäck und eiserner Disziplin trotzen sie dem Wetter und erkämpfen sich Kilometer für Kilometer. Chapeau!

Die Kleinstadt Porvenir mit heute rund 5.000 Einwohnern wurde während des kurzen Goldrausches von in der Mehrheit kroatischen Einwanderern um 1880 errichtet. Wir planen, am nächsten Tag die einmal täglich verkehrende Fähre nach Punta Arenas zu nehmen, vorausgesetzt, sie fährt, denn bei zu starken Winden wird der Betrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt und es heißt abwarten.

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Wir finden einen schönen Stellplatz am kleinen Leuchtturm oberhalb der bahia chilote, aber in der Nacht frischt der Wind nochmals auf und der Unimog bekommt ordentlich was auf den Popo. Er schwankt wie eine Hamburger Hafenbarkasse bei Sturmflut und unsere Nacht ist entsprechend unruhig, aber wir heben nicht ab. Am nächsten Tag erfahren wir, daß die Windgeschwindigkeit 80 Knoten betrug, also Orkanstärke. Bis zum frühen Nachmittag ist der Wind soweit abgeflaut, daß die Fähre starten kann. Die wellengeschüttelte Überfahrt dauert zweieinhalb Stunden, aber wir werden mit Walfontänen und Delphinen belohnt, die vor dem Bug gutgelaunt ihre Kunststückchen vorführen.

Punta Arenas, die Hauptstadt der Region Magellanes und südlichste Kontinentalstadt der Welt, präsentiert sich mit einem sehr gepflegten Stadtzentrum, einer hübschen plaza, die zum Verweilen einlädt und einem sehenswerten Friedhof. Die Stadt wurde Mitte des 19ten Jahrhunderts als Militärstützpunkt und Strafkolonie gegründet. Ihre Blütezeit als Handels- und Hafenmetropole reichte bis zu Eröffnung des Panamakanals, dann ereilte sie das gleiche Schicksal wie so viele andere Hafenstädte auf der Route: Die Stadt wurde für die Schifffahrt redundant. Die wirtschaftliche Flaute sollte aber nur vorübergehend sein: Schnell entdeckte man, daß sich die Region bestens für die Schafzucht und Wollproduktion eignete. Mit dem Boom kam der Wohlstand und viele Siedler und Geschäftsleute aus Europa.

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Auf der Plaza de Armas steht eine beeindruckende Bronzeskulptur mit Magellan als zentraler Figur. An zwei gegenüber liegenden Seiten sitzen zwei bronzene Indianer, welche die später ausgerotteten Stämme der Ona und Aonikenk darstellen. Küßt man den großen, schon blanken Zeh eines der Indianer, dann kehrt man nach Patagonien zurück. Die gutgebaute Meerjungfrau besitzt gleich zwei Schwänze, die den atlantischen und den pazifischen Ozean symbolisieren sollen, welche von der Magellanstraße verbunden werden.

Viele Schafbarone der umliegenden estancias bauten sich in Punta Arenas repräsentative Stadtvillen, wobei Tapeten, Möbel, Polster, Teppiche, Waschtische, Kamine und selbst das Parkett für die Böden über den Atlantik aus Europa herbeigeschifft wurden. Auf dem Rückweg transportierten die Schiffe tonnenweise Schafwolle.

Der Friedhof der Stadt ist ein Kleinod und wurde zum chilenischen Nationaldenkmal erklärt, was offensichtlich ein sattes Eintrittgeld von den Lebenden rechtfertigt.

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In Form gestutzte Zypressen säumen die Alleen, an denen sich die Gräber und Mausoleen aneinander reihen. Der verflossene Ruhm der Gründerzeit ist unübersehbar. Manche Grabstätten sind verschnörkelt und verspielt, manche puristisch schlicht gehalten.

Viele Gräber tragen kroatische, italienische, polnische und schweizerische Namen. Auch zahlreiche deutsche Einwanderer sind hier bestattet und es gibt sogar eine gemeinsame Grabstätte unter einem Kreuz der „Deutschen Kranken Kasse“.

Kap Hoorn

Wer möchte und über das erforderliche Kleingeld verfügt kann von Ushuaia aus die südlichste Insel Amerikas, das Ende der Welt, wo Atlantik und Pazifik mit bis zu zwanzig Meter hohen Wellenbergen aufeinander prallen, überfliegen. Mit einem gecharterten Helikopter ist sogar eine Landung möglich, vorausgesetzt, das unberechenbare Wetter spielt mit.

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Auf der Insel gibt es eine kleine chilenische Marinebasis und auf einer Anhöhe ein Denkmal, welches zum Gedenken an die Seeleute erbaut wurde, die bei der Umrundung Kap Hoorns ihr Leben ließen. Es ist eine rautenförmige Metallplatte mit dem Umriß eines Albatros, Symbolvogel aller Kap Hoorniers, und eine Marmortafel mit einem Gedicht der chilenischen Poetin Sara Vial:

Ich bin der Albatros, der auf dich wartet
am Ende der Welt.
Bin die vergessene Seele der toten Seeleute,
die Kap Hoorn umsegelten,
von allen Meeren der Erde.
Aber sie sind nicht gestorben
in den tobenden Wellen.
Heute fliegen sie auf meinen Schwingen
in die Ewigkeit,
im letzten Wellental der antarktischen Winde.

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Heute eines der Once in a lifetime-Traumziele aller Segler und Kreuzfahrer war Kap Hoorn einst der Schrecken aller Seeleute. Die Passage konnte Tage und Wochen dauern, manchmal scheiterte sie ganz. Rund 800 Schiffe zerschellten an den Felsküsten und unterseeischen Riffen der Costa de los Naufragios, der Isla de los Estados oder an einer der Inseln im Wollaston-Archipel. Über 10.000 Seeleute fanden hier ihr kaltes, nasses Grab. Nicht immer waren die eisigen Stürme und hohen Wellen Schuld; manche Reederei, die ihre Flotte und Ladung sehr gut versichert hatte, ließ das ein oder andere Schiff mit Absicht untergehen und sanierte sich damit.

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Feuer. Land.

Fernando de Magallanes, der Portugiese, der mit dem Auftrag des spanischen Königs Karl V. um die Welt segelte, einen westlichen Seeweg nach Indien und zu den Gewürzinseln zu finden, war der erste Europäer, der den schiffbaren Kanal zwischen der Inselgruppe und dem Kontinent entdeckte und 1520 seinen Fuß auf Feuerland setzte. Francis Drake war rund sechzig Jahre später auch nur an der zeitsparenden Passage und weniger an dem kargen, stets windigen Land interessiert. Zwei holländische Kapitäne, Willem Cornelisz Schouten und Jacob Le Maire aus Kap Hoorn, entdeckten dann 1615, daß Feuerland kein mit dem Südpol verbundenes Festland ist, wie man bis dahin glaubte, sondern eine Inselgruppe. Sie gaben dem südlichsten Punkt den Namen ihres holländischen Heimathafens. Kapitän Fitz Roy, Kommandant der Beagle, mit der Charles Darwin um die Welt reiste, entdeckte dann 1834 den nach seinem Schiff benannten Beagle-Kanal, der nördlich von Kap Hoorn zwischen der Hauptinsel und der Isla Navarino verläuft und einen Weg in geschützte, vergleichsweise ruhige Gewässer eröffnete.

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Aber es war ein Deutscher, der Flugpionier Günther Plüschow, der den Archipel erstmals aus der Luft sah. Am 3ten Dezember 1928 brachte er mit seiner offenen, einmotorigen Doppeldecker-Maschine vom Typ Heinkel He 24 W mit der Kennung „Tsingtau D 1313“ die erste Luftpost von Punta Arenas nach Ushuaia. Drei Jahre später verunglückte er zusammen mit seinem Bordmechaniker Ernst Dreblow nahe des Perito-Moreno-Gletschers am Fitz- Roy-Massiv tödlich, als das Flugzeug in den Rio Brazo stürzte. Noch heute wird Plüschow auf Feuerland sehr verehrt; Straßen tragen häufig seinen Namen, in Museen findet man umfangreiche Dokumentationen über ihn und auf dem Gelände des Aeroclub von Ushuaia ist seit 2011 eine originalgetreue Replik seines Doppeldeckers ausgestellt, der leider beim letzten Sturm eine der Tragflächen abgebrochen ist. Seine Eindrücke hat Plüschow in seinem abenteuerlichen Reisebericht „Silberkondor über Feuerland: Mit Segelkutter und Flugzeug ins Reich meiner Träume“ dokumentiert, ein auch heute noch sehr lesenswertes und faszinierendes Buch. Die ersten bewegten Bilder aus der Luft von der überwältigenden Schönheit Südpatagoniens und Feuerlands zeigte sein gleichnamiger Film.

Wie kam Feuerland zu seinem Namen? Der Chronist Magellans, Pigafetta, behauptet, bei der Ankunft seien schon aus großer Entfernung überall entlang der Küste die lodernden Feuer der einheimischen Völker zu sehen gewesen. Andere wiederum sagen, die Inseln tragen den Namen aufgrund des sich im Herbst leuchtend-rot verfärbenden Waldes. Wir sagen, wer Feuerland einmal erlebt hat, ist „Feuer und Flamme“, so wie wir. Vielleicht sind es aber auch die spektakulären Sonnenuntergänge, die die Kulisse majestätischer schneebedeckter Berge an langen Sommerabenden in sanftes, geradezu magisches Licht tauchen, die der Inselgruppe den Namen geben.

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Der Norden Feuerlands besteht aus flachem Tafelland mit kargem Bewuchs, der Süden hingegen erinnert uns stark an das bergige chilenische Patagonien mit undurchdringlichen Wäldern, welches wir schon kennen. Hier finden sich die letzten Ausläufer der Anden-Kordillere mit vergletscherten Gipfeln bis zu 2.500 Metern Höhe.

Kilometer um Kilometer fahren wir auf der Ruta 3, der Panamericana, weiter in den sich immer mehr verjüngenden Zipfel dieser Wundertüte namens Südamerika. Wir haben die Landkarte des riesigen Kontinents vor unserem geistigen Auge und das Gefühl, über die immer schmaler werdende Landmasse zu rutschen und in die eisigen antarktischen Fluten zu stürzen, wenn wir Unimoppel nicht rechtzeitig zum Stehen bringen.

Kann man einen Traum fahren?

Man kann. Wir haben uns einen Traum erfüllt und sind die Carretera Austral bis zum letzten Meter gefahren, rund 1.200 Kilometer von Nord nach Süd und dazu ein paar Hundert Kilometer rechts und links in die Seitentäler. Jeder Einzelne hat sich gelohnt und wir möchten die Erfahrungen nicht missen.

Wir haben die Schönheit des immergrünen kalten Regenwaldes und die Faszination alter weiß-blauer Gletscher erlebt, das türkisfarbene Leuchten der großen Ströme Patagonies, einen vollendeten Regenbogen über dem Lago Carrera, die Farbenpracht von Lupinenfeldern, rauschende Wasserfälle und verschwiegene Strände.

Sind wir jetzt traumlos? Im Gegenteil, wir haben uns Appetit geholt, das Erlebte macht Lust auf mehr, viel mehr, zum Beispiel auf einen Flug über die patagonischen Eisfelder.

Wir werden wiederkommen, soviel steht fest.

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Chile Chico

Unsere Freude ist groß, als wir von Mercedes Kaufmann in Coyhaique die Nachricht erhalten, daß unsere Ersatzteile für die Heizung angekommen sind. Die Chance, noch in diesem Jahr einmal heiß duschen zu können, steigt.

Die weitere Fahrt führt uns entlang des steilen Südufers des langgezogenen Lago General Carrera. Die rund 120 Kilometer lange mässig gute Piste bis Chile Chico entpuppt sich als abenteuerliche, kurvenreiche Strecke mit traumhaften Ausblicken auf den See, seine malerischen Buchten und die schneebedeckten Gipfel im Hintergrund. Allmählich ändert sich die Landschaft, vom dichten patagonischen Regenwald gibt es schon bald keine Spur mehr, es wird trockener und karger. Im Osten flachen die Hügel ab und man kann schon die Ebene der argentinischen Pampa erahnen.

Von Chile Chico aus, nur fünf Kilometer von der argentinischen Grenze entfernt, wollen wir die Fähre über den Lago Carrera nach Puerto Ibanez nehmen. Als wir am Abend vor der Überfahrt durch den mit breiten Straßen großzügig angelegten Ort cruisen und an der plaza halten, um mal wieder staatlich gesponsortes Wi-Fi abzuzapfen, klopft es plötzlich an der Tür: „Do you have friends Anette and Klaus?“ Jaaaa, haben wir und wir jagen gerade hinter ihnen her, aber woher weiß die charmante blonde Dame das??? Wir sind perplex, kramen in unserem Gedächtnis, aber weder Hugo noch mir kommt ihr Gesicht oder das ihres Begleiters bekannt vor.

Im Gespräch stellt sich dann heraus, daß die Dame aus Belgien stammt, ebenfalls auf Reisen ist und Anette sie und ihren Begleiter in der Lodge in Caleta Tortel kennengelernt hat.

Beim Abschied hat Anette sie wohl gebeten, uns zu grüßen, sollten wir uns zufällig irgendwo begegnen und prompt laufen wir uns in Chile Chico über den Weg. Grund für ein gemeinsames Bier in unserem Wohnzimmer !

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Am nächsten Morgen müssten wir eigentlich schon um 7.00 Uhr im Hafen sein, da dann für eine Stunde das Ticketbüro der Reederei öffnet. Die einzige Fähre nach Puerto Ibanez an diesem Tag legt bereits um 8.00 Uhr ab und da es der erste Werktag nach den Weihnachtsfeiertagen ist und noch dazu die touristische Hochsaison begonnen hat gehen wir von einem ziemlichen Andrang aus. Prompt verschlafen wir und werden erst um 7.20 Uhr wach. Frühstück fällt aus, wir fliegen in unsere Klamotten und jagen zum Hafen. Mit einem Parkplatz sieht es eng aus, noch dazu schieben die carabinieros Wache und so sprinte ich ins Ticketbüro, während Hugo draußen mit dem Unimog Kreise zieht. Die Schlange am Ticketschalter ist tatsächlich lang und ich sehe uns schon tagelang in Chico Chile auf die nächste Fähre warten. Aber das Personal arbeitet äußerst effizient, Kreditkarte ist kein Problem, das System funktioniert sogar im ersten Anlauf und um 7.50 Uhr habe ich Tickets für die 8.00 Uhr-Fähre, die bereits am Pier angelegt und mit dem Verladen der Fahrzeuge begonnen hat. Jetzt müssen wir nur noch samt Unimog an Bord kommen, aber wir werden überraschend vorgewunken und unversehens stehen wir hinter einem Viehtransport auf dem Schiff.

Die gut zweistündige Überfahrt über den spiegelglatten See mit seinen schönen Ausblicken ist wie eine kleine Kreuzfahrt. Beim Blick in das türkisfarbene Wasser fühlt man sich ein bisschen wie in die Karibik versetzt, nur weht dort der Wind nicht so kalt. Ab und an fallen ein paar Tropfen Regen und so kann das Schiff vor der Ankunft sogar durch einen bunten Regenbogen fahren.

In Puerto Ibanez angekommen geht es auf schnellstem Weg weiter nach Coyhaique. Dort holen wir die Ersatzteile bei Mercedes Kaufmann ab und Hugo baut den Brenner und die Steuerung noch am gleichen Tag in die Heizung ein. Beim Anlassen drücken wir fest die Daumen – sie funktioniert auf Anhieb! In kurzer Zeit sind zehn Liter Wasser auf eine Temperatur von sechzig Grad gebracht und wir gönnen uns nach über zwei Monaten die erste heiße Dusche! Ein unvorstellbarer Luxus! Besser kann das alte Jahr nicht enden…

Capillas de Marmol

Vroni und Ignacio haben wir in Cochrane abgesetzt; sie wollen von hier zur argentinischen Grenze. Unser Ziel heißt zunächst Puerto Tranquilo, wo wir die Capillas de Marmol besichtigen möchten, die wir auf der Fahrt nach Süden aufgrund schlechten Wetters haben ausfallen lassen. In Puerto Tranquilo angekommen schrauben wir uns mit dem Unimog einen dicht mit rosa blühenden Heckenrosen bewachsenen Steilhang hinunter und übernachten am Ufer des Lago Carrera unter haushohen Weidenbäumen.

Am nächsten Morgen sind uns die Wettergötter hold und wir fahren mit einem kleinen Boot zu den „Marmorkapellen“. Die bizarren Felsgebilde nahe des Ufers reflektieren den türkisfarbenen See und das Sonnenlicht. Mit viel Geschick manövriert uns der Bootsführer direkt in die Felshöhlen aus hellem, vielschichtigem Marmor hinein. In den Grotten leuchtet der See fast noch stärker. Die Oberfläche des Stein sieht aus wie dezent farbige Rochenhaut.

Die großen Felsbrocken sind vor vielen tausend Jahren von der gigantischen Wand aus Marmor abgebrochen, die sich am Ufer über uns erhebt. Das Seewasser hat sie im Laufe der Zeit unterspült und ausgehöhlt. Einige der dicken Brocken stehen heute nur noch auf filigranen Stelzen.

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PST

Die drei Buchstaben stehen für „Patagonia sin Tompkins“ und wir haben unterwegs auf Autos, Schildern, Häuserwänden oder auch Rucksäcken von jungen Travellern häufiger Aufkleber mit diesem Claim gesehen. Wir fragen nach, was es damit auf sich hat.

Es geht mal wieder um Douglas Tompkins. Genau, den Gutmenschen, der den Parque Pumalin eingerichtet und das Gebiet unter Naturschutz gestellt hat und auch gegenwärtig mit seiner Frau dabei ist, rund um Pumalin weiteres Land in Chile und Argentinien aufzukaufen. Und was ist daran so verwerflich, daß man Patagonien zur Tompkins-freien Zone erklären möchte? Neueste Gerüchte besagen, daß er das ganze Land kauft, um einen neuen Staat Israel zu errichten. Und wie kommt man zu dieser Annahme??? In den letzten Jahren seien auffallend viele Backpacker aus Israel in dieser Region gesehen worden… Soso, das Gerüchtesüppchen köchelt.

Flowerpower

Dorf ohne Straßen

Am ersten Weihnachtstag verlassen wir Villa O´Higgins über den gleichen Weg, den wir gekommen sind; es gibt nur diesen einen. Mit der kleinen Bedarfsfähre, die zu unserem Erstaunen sogar an diesem Feiertag im Einsatz ist, überqueren wir den Rio Bravo, biegen dann hinter Puerto Yungay nach gut zwanzig Kilometern auf eine Schotterpiste nach Westen ab und folgen dem Lauf des Rio Baker bis fast zu dessen Mündung bei Caleta Tortel.

Die Piste endet oberhalb des Dorfes, welches malerisch an einem Meeresarm liegt. Wir lassen den Wagen stehen und gehen zu Fuß weiter, denn im Dorf gibt es keine Straßen, sondern nur Stege und Treppen aus widerstandsfähigem Zypressenholz, das Wind, Wetter und Salz trotzt. Es geht kreuz und quer treppauf und treppab, auch am Ufer entlang führt ein Kilometer langer Steg bis zum Strand. In der ehemals völlig isolierten Holzfällersiedlung ohne Zuwegung über Land steht alles auf Stelzen, auch die holzverschindelten Wohnhäuser, die Plazas, der Kindergarten, das Kulturzentrum und das Gebäude der Feuerwehr.

Wir bummeln durch den Ort, lassen die Beschaulichkeit und Ruhe auf uns wirken, bestaunen die vielen hier blühenden Pflanzen und entdecken am Strand ein farbenfrohes Open-Air-Fitness-Studio.

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Wie überall an Chiles Küsten sind die Fluchtwege bei Tsunamis auch hier in Tortel gut sichtbar ausgeschildert. Der Fjord, an dem der Ort liegt, ist zwar tief und das offene Meer noch weit entfernt, trotzdem ist die Gefahr einer blitzartigen Überflutung latent immer gegeben.

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Zurück am Parkplatz werden wir von Vroni aus Deutschland und ihrem Freund Ignacio aus Santiago angesprochen. Die beiden Studenten touren mit leichtem Gepäck durch Südamerika und suchen eine Mitfahrgelegenheit nach Norden. Ob am Weihnachtstag der Bus fährt und wenn ja wann weiß niemand hier so genau. Wir verfrachten die beiden kurzerhand in die Kabine und nehmen sie bis Cochrane mit.

Wir sind übrigens zu spät in Tortel: Auf facebook erfahren wir, daß Anette und Klaus Tortel inzwischen verlassen haben und in Puerto Guadal sind.

 

Christmas on Ice

Wir haben auf den nun endgültig letzten Metern der Carretera Austral direkt am Anleger der Quetru übernachtet, da die Tour ins Eis frühmorgens startet; insgesamt wird sie zwölf Stunden dauern. Der Wind fegt in unverminderter Stärke wie ein eiskalter Föhn horizontal über den milchig-grünen langgezogenen Arm des Lago O´Higgins. Das kleine Schiff mit seinem spitzen hohen Bug macht einen robusten Eindruck und kämpft sich Stunde um Stunde wild hüpfend durch die Wellen.

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Außer der Besatzung sind rund zwanzig Personen an Bord; einige Touristen und ein paar Polizisten. In Candelario Mancilla setzen wir eine Handvoll Wanderer ab, die zu Fuß weiter nach El Chaitén zum Parque Nacional Los Glaciares in Argentinien gehen wollen, nehmen die vor Tagen gestrandeten und jetzt erleichtert aufatmenden Wanderer an Bord, und die mitgefahrenen Carabineros nehmen die Plätze ihrer Kollegen ein.

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Hinter einer großen Felsnase erreichen wir dann den offenen Teil des Lago O´Higgins und der Wind nimmt nochmals zu. Hier fegen die Winde mit ungebremster Geschwindigkeit vom südlichen Eisschild über die niedrigen Hügel und die Gletscher talwärts. Wütend peitschen sie über das Wasser, so als wollten sie Eindringlinge davon abhalten, tiefer in die Welt des Eises einzudringen. Trotz Wind und Kälte verlassen wir den schützenden Innenraum der Quetru und gehen an Deck, wo wir uns an der Reling gut festhalten müssen, um nicht umgepustet zu werden. Souverän steuert der Kapitän – schwarzer Sweater, Jeans, viele Lachfältchen um die wie blankpoliert wirkenden Augen, graues kurzes Haar – das Schiff in den etliche Kilometer breiten Arm, an dessen Ende sich die Front des O´Higgins Gletschers in den See schiebt.

Die ersten kleinen und größeren Eisberge tauchen vor uns auf. Von durchscheinendem Weiß-Blau und unbeschreiblich schön, treiben sie auf der Oberfläche, manche nur einfache Schollen, manche filigrane kleine Eispaläste mit bizarren Formen.

Vor uns können wir den Gletscher erkennen, der sich wie eine gewaltige weiße Schlange vom südlichen Eisschild in den See schiebt. Je weiter wir uns dem Gletscher nähern desto stärker wird der Wind. Er fällt in rasender Geschwindigkeit über den Gletscher hinab und bläst uns frontal so stark entgegen, daß man kaum Luft holen kann.

Die eiskalte Gischt spritzt an den Bordwänden der über die Wellen hüpfenden Quetru bis über die Reling empor. Meter um Meter kämpft sich der Kapitän gegen den Wind näher an die Gletscherwand. Immer wieder nimmt er sein Fernglas zur Hand und beobachtet sehr genau die sich vor uns auftürmende über drei Kilometer breite und siebzig Meter hohe Wand aus Eis. Er fährt bis in ihren Windschatten, wo das Wasser fast still ist und der Wind schlagartig verstummt, so als hätte jemand einen eisigen Fön abgeschaltet. Wir sind keine siebzig Meter von der Gletscherfront entfernt, blicken an ihr hoch, haben das Gefühl, nur den Arm ausstrecken zu müssen um sie zu berühren. Es ist unbeschreiblich.

Der Himmel ist bedeckt und grau, aber selbst das wenige Licht mindert nicht das weiß-blaue  Farbenspiel des Eises. Es sieht aus, als würde der Geltscher von innen beleuchtet werden.

Wir fahren über Stunden immer wieder die Front entlang, aber die Zeit fliegt. Dann steigen zwei Besatzungsmitglieder zwar mit Schwimmweste, aber ohne vor der Kälte schützenden Überlebensanzug in ein Zodiac, um von einem treibenden Eisberg einige Stückchen abzuschlagen und an Bord zu bringen.

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Ein fragwürdiges Unterfangen, da gefährlich, aber es ist Heiligabend … da passiert schon nichts.

Die viele tausend Jahre alten Eiswürfel bekommen wir dann mit einem üppigen Schluck Whisky serviert, bevor der Kapitän beidreht und die Rückfahrt beginnt.

Kaum sind wir aus dem Windschatten des Gletschers, geht der wilde Tanz auf den Wellen erneut los, aber wir sind zum Glück seefest. Wir sind randvoll mit unbeschreiblichen Eindrücken, die sich nicht in Worte fassen lassen. Spätestens jetzt ist klar, daß sich eine ganz große Patagonia Love Story anbahnt, die durch nichts mehr aufzuhalten ist. Es hat uns restlos gepackt.

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Der letzte Meter

Die Piste zeigt mehr und mehr die Konsistenz eines Schweizer Käses, Schlagloch reiht sich an Schlagloch und das Fahren gleicht mehr einem Springen, aber das Panorama bleibt auch während der nächsten Stunden zum Staunen: Auf der einen Seite schimmert – auch bei bedecktem Himmel- türkisfarben der See Carrera auf der anderen Seite liegen die verschneiten Gipfel, die Straße dazwischen führt durch Wiesen, Wälder und gelbe Lupinen.

Bei Puerto Bertrand erreichen wir den Beginn des Rio Baker, der als wasserreichster Fluß Chiles und potenzielle Energiequelle gilt und damit seit einigen Jahren landesweit für erhitzte Gemüter und heftige Dispute sorgt.

Der internationale Energiemulti Endesa plant gemeinsam mit dem chilenischen Kraftwerksbetreiber Colbún vier große Staudämme, wobei die Täler rund um den Rio Baker und den kleineren Rio Pascua, insgesamt 6000 Hektar, geflutet werden sollen. Die Industrie, insbesondere die großen Minen des Landes und die dichtbesiedelte Zentralregion rund um Santiago, benötigen Energie, viel Energie. Einwohner und Umweltschützer torpedieren das Rio Baker-Projekt, da eine der großartigsten und unberührtesten Landschaften Patagoniens unter Wasser gesetzt würden und für die Stromtrasse eine gewaltige Schneise durch das Land getrieben werden müsste. Vielleicht sollte man mal einen Blick weit in den Norden des Landes werfen, in die menschenleere und lebensfeindliche Öde der Atacama. Dort gibt es jede Menge Platz und Sonne genug, um Solarfelder aufzustellen. Der ökologische Schaden wäre weitaus geringer.

Wir folgen dem Lauf des Rio Baker, der breit und grün durch Wald, Wiesen, felsige Canyons und später die braune Steppe rauscht. Das kleine, blitzsaubere Cochrane mit seinen rund 4.000 Einwohnern ist die letzte größere Siedlung an der Carretera Austral. Als wir in den Ort hineinfahren entdecken wir auf den Hügeln einen Touch von Hollywood: Was nicht ist kann ja noch werden, oder?

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Die meisten Patagonienbesucher kehren spätestens hier um, aber für uns geht es noch 233 Kilometer weiter nach Süden, denn wir möchten die Carretera wirklich bis zum allerletzten Meter fahren. Im Dorf decken wir uns in der fruteria mit frischem Obst und Gemüse ein, im mercado mit Milch, Brot und Käse. Dann zapfen wir das lokale Internet an und ich stelle auf facebook fest, daß eine Bekannte, Anette, mit ihrem Mann ebenfalls in Patagonien unterwegs ist. Selbstverständlich, daß wir sie über facebook anmorsen… vielleicht klappt ja irgendwo auf der Route ein spontanes Treffen?

Das letzte Stück der Carretera wurde erst nach 1994 gebaut bzw. vielmehr durch den dichten Urwald geschlagen und geschoben. Die Arbeiten müssen unvorstellbar anstrengend gewesen sein. Die unbefestigte einspurige Schotterpiste führt an Hochmooren und Sümpfen vorbei und die kurvenreiche Strecke gibt immer wieder wunderbare Ausblicke auf den nördlichen Eisschild und über weite unberührte Täler frei.

Tortel, einen kleiner Ort westlich der Carretera und nahe der Mündung des Rio Baker ins Meer, heben wir uns für die Rückfahrt auf, denn wir möchten Weihnachten in Villa O´Higgins, unserer „Endstation Sehnsucht“ sein. In Puerto Yungay – drei Häuser und eine Rampe – setzt uns eine kleine Fähre über den Fjord in gut dreißig Minuten nach Rio Bravo über – drei Häuser und eine Rampe.

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Auf der verbleibenden Strecke von 100 Kilometern fahren wir durch große Bambuswälder, sehen schön gezeichnete Wildgänse und erhaschen immer wieder Ausblicke auf das hier beginnende südliche patagonische Eisfeld und seine Gletscher.

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Dann erreichen wir das kleine Villa O´Higgins, den einsamen Posten in der patagonischen Wildnis mit 500 Einwohnern, und die teuerste Tankstelle Chiles: Der Diesel ist hier gute 30% teuer als im restlichen Chile, aber kein Wunder, muß doch jeder kostbare Tropfen den weiten Weg umständlich hertransportiert werden. Unsere großen Tanks sind zum Glück noch gut gefüllt 🙂

An der schön gestalteten Plaza zapfen wir wieder das staatlich geförderte Internet an und erfahren auf facebook, daß Anette und ihr Mann inzwischen in … Tortel sind, von dort nach Puerto Guadal am südlichen Ufer des Lago Carrera und anschließend zwecks Weiterflug nach Buenos Aires nach Coyhaique fahren. Knapp vorbei ist auch daneben, aber da wir auch nach Coyhaique zurück müssen, um unsere Ersatzteile bei Mercedes abzuholen, haben wir vielleicht noch eine Chance, sie dort zu treffen.

In Villa O´Higgins hat sich seit der Anbindung an die Carretera 1999 eine bescheidene touristische Infrastruktur entwickelt, da das Umland einiges zu bieten hat. Meist finden sich in diesem Nest Wanderer und Backpacker aus aller Herren Länder ein, und manchmal stranden sie geradezu, da nur sporadisch ein Bus fährt. Wir werden mehrfach um Mitfahrgelegenheit gebeten, da wir aber noch einige Tage hier verbringen möchten können wir spontan nicht wirklich helfen.

Die „Saison“ beginnt erst im Januar, daher ist noch nicht viel los. Eines Mittags suchen wir eines der winzigen Restaurants auf, nicht mehr als ein 20 qm großer wintergartenähnlicher Anbau am Wohnhaus der Familie. Wackelige Holztische und –stühle, mit selbstgehäkelten Deckchen und Lammfellen liebevoll dekoriert, ein Sammelsurium von Nippes auf den Fensterbänken und Simsen. Wir haben das Gefühl, bei unseren Großeltern im Wohnzimmer zu sitzen. Draußen pfeift der Wind so stark, daß das Gebälk des klapprigen Anbaus knirscht und kracht. Wir befürchten schon, mit ihm gemeinsam abzuheben. Da wir die einzigen Gäste sind und noch dazu aus Alemana ist uns die ungeteilte Aufmerksamkeit des gesamten Personals – Papa, Mama, Sohn – sicher. Es herrscht strikte Arbeitsteilung: Mama kocht nebenan, Papa macht den Service – formvollendet wie in einem Sternerestaurant – und der Sohnemann im Teenageralter schaut zu wie´s geht. Auswahl gibt es allerdings keine, es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. In diesem Fall eine geschmorte Hähnchenkeule und eine Portion Kartoffelbrei, von der selbst Rainer Kalmund pappsatt geworden wäre. Als Nachtisch bietet uns das symphatische Trio Obst aus der Dose an, welches wir dankend ablehnen, aber dann zaubern die Drei vom Bäcker frischen Zitronenkuchen herbei und mit unserer Standhaftigkeit ist es vorbei.

Die Carretera Austral endet sieben Kilometer hinter O´Higgins am gleichnamigen See, aber wir wollen noch ein Stückchen weiter, auch wenn es mit dem Wagen nicht geht, und so buchen wir für montags eine Tour auf der Quetru. Mehrmals wöchentlich fährt das kleine Kabinenschiff für maximal 50 Passagiere über den See, zunächst nach Candelario Mancilla, der letzten einsam gelegenen chilenischen Polizeistation zwecks Grenzbewachung, und dann weiter zum O´Higgins Gletscher, der sich vom südlichen Eisschild in den See schiebt. Er ist unser Ziel.

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Am Montag hat der Wind kein bisschen nachgelassen, sondern bläst noch immer mit unverminderten zehn Windstärken. Das Schiff fährt nicht. Am Dienstag auch nicht. Am Mittwoch hat der Wind zwar immer noch keinen Deut nachgegeben, aber das Schiff fährt trotzdem. Muß fahren, denn in Candelario Mancilla hängen seit drei Tagen einige Wanderer fest und außerdem ist zu Weihnachten an dem Polizeiposten Wachablösung vorgesehen. Wir stellen uns auf einen schaukeligen Heiligabend ein.