Der letzte Meter

Die Piste zeigt mehr und mehr die Konsistenz eines Schweizer Käses, Schlagloch reiht sich an Schlagloch und das Fahren gleicht mehr einem Springen, aber das Panorama bleibt auch während der nächsten Stunden zum Staunen: Auf der einen Seite schimmert – auch bei bedecktem Himmel- türkisfarben der See Carrera auf der anderen Seite liegen die verschneiten Gipfel, die Straße dazwischen führt durch Wiesen, Wälder und gelbe Lupinen.

Bei Puerto Bertrand erreichen wir den Beginn des Rio Baker, der als wasserreichster Fluß Chiles und potenzielle Energiequelle gilt und damit seit einigen Jahren landesweit für erhitzte Gemüter und heftige Dispute sorgt.

Der internationale Energiemulti Endesa plant gemeinsam mit dem chilenischen Kraftwerksbetreiber Colbún vier große Staudämme, wobei die Täler rund um den Rio Baker und den kleineren Rio Pascua, insgesamt 6000 Hektar, geflutet werden sollen. Die Industrie, insbesondere die großen Minen des Landes und die dichtbesiedelte Zentralregion rund um Santiago, benötigen Energie, viel Energie. Einwohner und Umweltschützer torpedieren das Rio Baker-Projekt, da eine der großartigsten und unberührtesten Landschaften Patagoniens unter Wasser gesetzt würden und für die Stromtrasse eine gewaltige Schneise durch das Land getrieben werden müsste. Vielleicht sollte man mal einen Blick weit in den Norden des Landes werfen, in die menschenleere und lebensfeindliche Öde der Atacama. Dort gibt es jede Menge Platz und Sonne genug, um Solarfelder aufzustellen. Der ökologische Schaden wäre weitaus geringer.

Wir folgen dem Lauf des Rio Baker, der breit und grün durch Wald, Wiesen, felsige Canyons und später die braune Steppe rauscht. Das kleine, blitzsaubere Cochrane mit seinen rund 4.000 Einwohnern ist die letzte größere Siedlung an der Carretera Austral. Als wir in den Ort hineinfahren entdecken wir auf den Hügeln einen Touch von Hollywood: Was nicht ist kann ja noch werden, oder?

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Die meisten Patagonienbesucher kehren spätestens hier um, aber für uns geht es noch 233 Kilometer weiter nach Süden, denn wir möchten die Carretera wirklich bis zum allerletzten Meter fahren. Im Dorf decken wir uns in der fruteria mit frischem Obst und Gemüse ein, im mercado mit Milch, Brot und Käse. Dann zapfen wir das lokale Internet an und ich stelle auf facebook fest, daß eine Bekannte, Anette, mit ihrem Mann ebenfalls in Patagonien unterwegs ist. Selbstverständlich, daß wir sie über facebook anmorsen… vielleicht klappt ja irgendwo auf der Route ein spontanes Treffen?

Das letzte Stück der Carretera wurde erst nach 1994 gebaut bzw. vielmehr durch den dichten Urwald geschlagen und geschoben. Die Arbeiten müssen unvorstellbar anstrengend gewesen sein. Die unbefestigte einspurige Schotterpiste führt an Hochmooren und Sümpfen vorbei und die kurvenreiche Strecke gibt immer wieder wunderbare Ausblicke auf den nördlichen Eisschild und über weite unberührte Täler frei.

Tortel, einen kleiner Ort westlich der Carretera und nahe der Mündung des Rio Baker ins Meer, heben wir uns für die Rückfahrt auf, denn wir möchten Weihnachten in Villa O´Higgins, unserer „Endstation Sehnsucht“ sein. In Puerto Yungay – drei Häuser und eine Rampe – setzt uns eine kleine Fähre über den Fjord in gut dreißig Minuten nach Rio Bravo über – drei Häuser und eine Rampe.

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Auf der verbleibenden Strecke von 100 Kilometern fahren wir durch große Bambuswälder, sehen schön gezeichnete Wildgänse und erhaschen immer wieder Ausblicke auf das hier beginnende südliche patagonische Eisfeld und seine Gletscher.

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Dann erreichen wir das kleine Villa O´Higgins, den einsamen Posten in der patagonischen Wildnis mit 500 Einwohnern, und die teuerste Tankstelle Chiles: Der Diesel ist hier gute 30% teuer als im restlichen Chile, aber kein Wunder, muß doch jeder kostbare Tropfen den weiten Weg umständlich hertransportiert werden. Unsere großen Tanks sind zum Glück noch gut gefüllt 🙂

An der schön gestalteten Plaza zapfen wir wieder das staatlich geförderte Internet an und erfahren auf facebook, daß Anette und ihr Mann inzwischen in … Tortel sind, von dort nach Puerto Guadal am südlichen Ufer des Lago Carrera und anschließend zwecks Weiterflug nach Buenos Aires nach Coyhaique fahren. Knapp vorbei ist auch daneben, aber da wir auch nach Coyhaique zurück müssen, um unsere Ersatzteile bei Mercedes abzuholen, haben wir vielleicht noch eine Chance, sie dort zu treffen.

In Villa O´Higgins hat sich seit der Anbindung an die Carretera 1999 eine bescheidene touristische Infrastruktur entwickelt, da das Umland einiges zu bieten hat. Meist finden sich in diesem Nest Wanderer und Backpacker aus aller Herren Länder ein, und manchmal stranden sie geradezu, da nur sporadisch ein Bus fährt. Wir werden mehrfach um Mitfahrgelegenheit gebeten, da wir aber noch einige Tage hier verbringen möchten können wir spontan nicht wirklich helfen.

Die „Saison“ beginnt erst im Januar, daher ist noch nicht viel los. Eines Mittags suchen wir eines der winzigen Restaurants auf, nicht mehr als ein 20 qm großer wintergartenähnlicher Anbau am Wohnhaus der Familie. Wackelige Holztische und –stühle, mit selbstgehäkelten Deckchen und Lammfellen liebevoll dekoriert, ein Sammelsurium von Nippes auf den Fensterbänken und Simsen. Wir haben das Gefühl, bei unseren Großeltern im Wohnzimmer zu sitzen. Draußen pfeift der Wind so stark, daß das Gebälk des klapprigen Anbaus knirscht und kracht. Wir befürchten schon, mit ihm gemeinsam abzuheben. Da wir die einzigen Gäste sind und noch dazu aus Alemana ist uns die ungeteilte Aufmerksamkeit des gesamten Personals – Papa, Mama, Sohn – sicher. Es herrscht strikte Arbeitsteilung: Mama kocht nebenan, Papa macht den Service – formvollendet wie in einem Sternerestaurant – und der Sohnemann im Teenageralter schaut zu wie´s geht. Auswahl gibt es allerdings keine, es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. In diesem Fall eine geschmorte Hähnchenkeule und eine Portion Kartoffelbrei, von der selbst Rainer Kalmund pappsatt geworden wäre. Als Nachtisch bietet uns das symphatische Trio Obst aus der Dose an, welches wir dankend ablehnen, aber dann zaubern die Drei vom Bäcker frischen Zitronenkuchen herbei und mit unserer Standhaftigkeit ist es vorbei.

Die Carretera Austral endet sieben Kilometer hinter O´Higgins am gleichnamigen See, aber wir wollen noch ein Stückchen weiter, auch wenn es mit dem Wagen nicht geht, und so buchen wir für montags eine Tour auf der Quetru. Mehrmals wöchentlich fährt das kleine Kabinenschiff für maximal 50 Passagiere über den See, zunächst nach Candelario Mancilla, der letzten einsam gelegenen chilenischen Polizeistation zwecks Grenzbewachung, und dann weiter zum O´Higgins Gletscher, der sich vom südlichen Eisschild in den See schiebt. Er ist unser Ziel.

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Am Montag hat der Wind kein bisschen nachgelassen, sondern bläst noch immer mit unverminderten zehn Windstärken. Das Schiff fährt nicht. Am Dienstag auch nicht. Am Mittwoch hat der Wind zwar immer noch keinen Deut nachgegeben, aber das Schiff fährt trotzdem. Muß fahren, denn in Candelario Mancilla hängen seit drei Tagen einige Wanderer fest und außerdem ist zu Weihnachten an dem Polizeiposten Wachablösung vorgesehen. Wir stellen uns auf einen schaukeligen Heiligabend ein.

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