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Parque Nacional Tierra del Fuego

Am Beagle-Kanal, neunzehn Kilometer westlich von Ushuaia, endet die Ruta 3 und wir haben den wirklich allerletzten Meter der Panamericana in Südamerika erreicht. Hier geht es auch mit dem Unimog nicht weiter, denn hier beginnt der Nationalpark Tierra del Fuego. Das nördliche Ende der PanAm, laut Tafel rund 18.000 Kilometer entfernt in Alaska, werden wir uns auf einer weiteren Tour auch noch erfahren.

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Die PanAm – als längste Straße der Welt bekannt – ist keine kontinuierlich zusammenhängende Strecke, sondern ein transkontinentales System von miteinander verbundenen Schnell- und Fernstraßen. Ihr Verlauf ist also nicht eindeutig, sondern eher unbestimmt und jeder darf sich ein bisschen seine persönliche PanAm basteln.

Von den 63.000 ha des 1960 eingerichteten Naturparks dürfen nur 2.000 besucht werden, der Rest ist für uns Menschen strikt tabu. Wir wandern zwei Tage durch den Park, entlang der Fjorde, vorbei an stillen Lagunen und Torfmooren und sehen auch einige Biberdämme.

Die Tiere mit den langen Zähnen sind hier in Patagonien nicht endemisch, sondern wurden 1948 zur Pelzgewinnung aus Kanada eingeführt. Da sie hier keine natürlichen Feinde haben wurden seitdem aus 25 Biberpaaren über 100.000 Tiere, die erheblichen Schaden am Urwald anrichten. Wir sehen überall angenagte und abgenagte Baumstämme. Um das Problem zu beheben kam ein besonders schlauer Kopf auf die Idee, Wiesel und Füchse ebenfalls einzuführen, aber die haben keine Lust, sich nasse Füsse zu holen und jagen statt der Biber lieber die Vögel im Park. Um die Bestände zumindest halbwegs unter Kontrolle zu bekommen hat die Regierung jetzt drastische Maßnahmen gegriffen und ein Kopfgeld für erlegte Biber ausgeschrieben. In Restaurants und Cafes entdecken wir immer wieder „Wanted“-Schilder.

In der Bahia Ensenada und Bahia Lapataia sehen wir neben schwimmenden Seelöwen und Seeottern unzählige schön gezeichnete Wasservögel, die hier in den Kelpbetten entlang der geschützten Küste ihre Jungen großziehen.

Die Senda Costera führt die Küste entlang durch dichten Urwald mit immergrünen Scheinbuchen, Lenga-Gehölzen und der Winterrinde mit ihren rötlichen Stämmen und Blüten, die einen angenehmen Duft verströmen. In vielen Bäumen sitzen kleine Parasitenpflanzen, die phantasievolle Namen tragen: Die hellgrünen Flechten, die wie Gazestreifen von den Ästen wehen, heißen „Altherrenbart“, die golfballgroßen gelben Kugeln heißen „Chinesische Laternen“ und die häufig in Astgabeln sitzenden Pilze nennt man „Indianerbrot“. Die Erdschicht ist hier am Ende der Welt sehr dünn und das Wurzelwerk der Bäume und Sträucher wie Spaghetti ineinander verwoben, um den heftigen Winden mehr Kraft entgegensetzen zu können. Der Sommer ist spürbar und sichtbar; auf den Lichtungen im Wald blühen viele Gräser und Blumen.

Natürlich versäumen wir es nicht, uns im angeblich „südlichsten Postamt der Welt“ in der Bahia Ensenada einen Stempel in den Reisepaß zu holen. Ist ein bisschen geschummelt, denn die Chilenen unterhalten auf der Insel Kap Hoorn, die etwas weiter südlich liegt, ebenfalls ein Postamt, aber soweit reisen die meisten Besucher dann doch nicht.

Kap Hoorn

Wer möchte und über das erforderliche Kleingeld verfügt kann von Ushuaia aus die südlichste Insel Amerikas, das Ende der Welt, wo Atlantik und Pazifik mit bis zu zwanzig Meter hohen Wellenbergen aufeinander prallen, überfliegen. Mit einem gecharterten Helikopter ist sogar eine Landung möglich, vorausgesetzt, das unberechenbare Wetter spielt mit.

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Auf der Insel gibt es eine kleine chilenische Marinebasis und auf einer Anhöhe ein Denkmal, welches zum Gedenken an die Seeleute erbaut wurde, die bei der Umrundung Kap Hoorns ihr Leben ließen. Es ist eine rautenförmige Metallplatte mit dem Umriß eines Albatros, Symbolvogel aller Kap Hoorniers, und eine Marmortafel mit einem Gedicht der chilenischen Poetin Sara Vial:

Ich bin der Albatros, der auf dich wartet
am Ende der Welt.
Bin die vergessene Seele der toten Seeleute,
die Kap Hoorn umsegelten,
von allen Meeren der Erde.
Aber sie sind nicht gestorben
in den tobenden Wellen.
Heute fliegen sie auf meinen Schwingen
in die Ewigkeit,
im letzten Wellental der antarktischen Winde.

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Heute eines der Once in a lifetime-Traumziele aller Segler und Kreuzfahrer war Kap Hoorn einst der Schrecken aller Seeleute. Die Passage konnte Tage und Wochen dauern, manchmal scheiterte sie ganz. Rund 800 Schiffe zerschellten an den Felsküsten und unterseeischen Riffen der Costa de los Naufragios, der Isla de los Estados oder an einer der Inseln im Wollaston-Archipel. Über 10.000 Seeleute fanden hier ihr kaltes, nasses Grab. Nicht immer waren die eisigen Stürme und hohen Wellen Schuld; manche Reederei, die ihre Flotte und Ladung sehr gut versichert hatte, ließ das ein oder andere Schiff mit Absicht untergehen und sanierte sich damit.

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Im Gefängnis

Das heutige Museo Maritimo erzählt von den Anfängen und der Vergangenheit Ushuaias als Strafkolonie. Ende des 19ten Jahrhunderts wurden Hunderte der übelsten Kriminellen Argentiniens, aber auch politische Gefangene oder sozial Unerwünschte kurzerhand ans Ende der Welt deportiert. Zu seinen Boomzeiten beherberte das Gefängnis 600 Strafgefangene in 380 Zellen, darunter psychopatische Massenmörder und Anarchisten.

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Ein nicht renovierter Flügel veranschaulicht das damalige Knastleben in beklemmender Weise. Die Zellen waren winzig, düster und nicht beheizt; pro Trakt gab es lediglich zwei Öfen in den Gängen, die auch nur tagsüber beheizt wurden. Zu lebenslanger Haftstrafe verurteilte Mörder wurden in strikter Einzelhaft gehalten, erhielten pro Mahlzeit nur die halbe Ration und hatten keinen Zugang zu Büchern. Die wenigsten Häftlinge haben das Gefängnis lebend verlassen, denn sie mussten trotz der miserablen Bedingungen harte Arbeit verrichten: Holz fällen, Piers bauen und eine Zugtrasse für die Häftlingseisenbahn, deren Lokomotive heute vor dem Museum steht. Sie trugen damit nicht unwesentlich zum wirtschaftlichen Aufschwung Ushuaias bei.

In den besucherfreundlich grün-weiß renovierten Flügeln des Gefängnisses sind heute Artefakte und Dokumentationen über Ushuaias maritime Vergangenheit ausgestellt. Es ist ein wildes, aber interessantes thematisches Sammelsurium: Das Spektrum reicht von Schiffsmodellen wie Magellans Trinidad, Darwins Beagle und Amundsen Fram über alte Seekarten, Zeichnungen der antarktischen Tierwelt und Schriftstücken der Pioniere der geographischen Erforschung der Region bis hin zu ausgestopften Pinguinen und Seevögeln.

Trotzdem, wir sind froh, als wir wieder entlassen und draußen sind :-)!

Ushuaia

Es wird Abend und wir haben schon fast das Ende der „Straße zum Ende der Welt“ erreicht. Wir möchten ausgeruht in Ushuaia ankommen und suchen uns einen ruhigen Stellplatz im Wald einige Kilometer oberhalb der Stadt. Über Nacht fällt Schnee und am Morgen sind nur wenige Hundert Meter über uns die Bergflanken weiß gepudert.

Wir fahren die letzten Kilometer, vorbei an den südlichsten Skipisten und Liftanlagen der Welt, dann liegt die 65.000 Einwohner zählende Stadt traumhaft schön in der großen Bucht am Beagle-Kanal unterhalb der frisch verschneiten Gipfel der Sierra Alvear und des Cordón Vinciguerra vor uns.

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Ursprünglich als eine Mischung aus Missionsstation, Staatsgefängnis und Versorungsposten von Goldsuchern und Schafzüchtern gegründet, erlebte Ushuaia einen regelrechten Boom während der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983, als die Landesregierung willige Siedler mit Vergünstigungen lockten. Hintergrund waren ewige Grenzquerelen mit dem Nachbarn Chile in Südpatagonien und zunehmendes – auch internationales – Interesse an der Antarktis. Es hieß Präsenz zu zeigen. Heute hat sich die Stadt aufgrund ihrer Lage zu einem Touristenmagneten mit über 300.000 Besuchern pro Jahr aus aller Welt und zum Tor zur Antarktis entwickelt. Rund 40 Prozent der internationalen Gäste sind Kreuzfahrer, die meist nur ein bis zwei Tage im Ort bleiben und wenig Gelegenheit haben, die landschaftliche Schönheit kennen zu lernen.

Hoch über der Playa Larga, einem langen Strand, finden wir einen Stellplatz mit Blick auf die Stadt, die zu Chile zählende Isla Navarino im Süden und den weiten Arm des Beagle-Kanals, dessen spiegelglatte Wasseroberfläche wie poliertes Silber glänzt.

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Wir haben Glück mit dem Wetter; keine Spur von Sturmböen, die die Nähe zur Antarktis spüren lassen, oder Regenschauern, welche in ihrer Heftigkeit die Tropfen horizontal treiben. Wir frösteln nicht einmal. Es ist fast windstill, und ab und an bricht die Sonne sogar für längere Zeit durch die Wolkendecke. Auch die Thermik stimmt und so nutzt Hugo die sich hier sehr selten ergebende Chance für einen Flug mit dem Gleitschirm.

Verlaufen kann man sich in Ushuaia nicht: Wie in fast allen Städten Argentiniens – und auch Chiles – ist das überschaubare Zentrum in Blocks aufgeteilt und die wichtigen Straßen verlaufen parallel zum Ufer. Wir bringen unsere Wäsche in die lavanderia, auch hier zum praktischen Kilopreis, bummeln durch die Stadt und entlang der Uferpromenade, genießen in einer uralten, ganz mit Holz getäfelten Konditorei am Hafen einen submarino, wie hier eine heiße Schokolade genannt wird.

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Im Segelhafen liegen einige Yachten, die die furious fifties, screaming sixties und die stürmische Umrundung Kap Hoorns bereits überstanden haben oder sich darauf vorbereiten. Alte, bunt bemalte Holzhäuschen und Bauten aus der Gründerzeit stehen einträchtig neben Cafés in trendigem Design, wie man es auch in Mailand, New York oder Berlin findet. Es gibt viele Outdoor-Ausstatter und Touranbieter, die Ausflüge in die Umgebung, zu Pinguin-Kolonien, Segeltörns auf dem Beagle-Kanal oder Reisen in die Antarktis anbieten. Die Touren sind immer dieselben, die Preise auch. Die Restaurants, in deren Schaufenstern ganze Lämmer über offenem Feuer gegrillt werden, lassen uns im Vorbeigehen das Wasser im Mund zusammenlaufen.

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Die Atmosphäre ist lebhaft und modern, ohne bei all der touristischen Prosperität an Beschaulichkeit eingebüßt zu haben. Ushuaia macht auf uns alles andere als einen verstaubten oder vergessenen Eindruck, es gefällt uns gut hier in der südlichsten Stadt der Welt, die diesen Namen eigentlich zu Unrecht trägt, denn das chilenische Puerto Williams auf der gegenüber liegenden Isla Navarino liegt noch südlicher. Aber man hat einen Kompromiß gefunden, zumindest vorläufig: Ushuaia darf, da deutlich größer, den Titel „Südlichste Stadt der Welt“ tragen, Puerto Williams mit seinen gerade einmal 2.000 Einwohnern den Titel „Südlichster Ort der Welt“. Auch am Ende der Welt werden Haare gespalten.

Nachdem wir uns Appetit erlaufen haben dürfen wir auch hemmungslos der lokalen Kulinarik frönen. Hugo gönnt sich ein immens großes, butterzartes Steak und ich freue mich auf die feuerländische Spezialität, frische centolla.

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Die roten Königskrabben, auch Meeresspinnen genannt, sind mit ihrer Spannweite von fast einem Meter riesig. Anders als bei anderen Krebsarten kann man die langen dünnen Beine und Scheren beim Essen ignorieren. Das Fleisch wird aus dem Körper gezupft, bis zu 300 Gramm pro Krabbe, und schmeckt fantastisch. Die Portion bereits ausgelösten Fleisches, die mir zusammen mit geschmolzener Butter und mehreren Dips serviert wird, ist mehr als reichlich.

Feuer. Land.

Fernando de Magallanes, der Portugiese, der mit dem Auftrag des spanischen Königs Karl V. um die Welt segelte, einen westlichen Seeweg nach Indien und zu den Gewürzinseln zu finden, war der erste Europäer, der den schiffbaren Kanal zwischen der Inselgruppe und dem Kontinent entdeckte und 1520 seinen Fuß auf Feuerland setzte. Francis Drake war rund sechzig Jahre später auch nur an der zeitsparenden Passage und weniger an dem kargen, stets windigen Land interessiert. Zwei holländische Kapitäne, Willem Cornelisz Schouten und Jacob Le Maire aus Kap Hoorn, entdeckten dann 1615, daß Feuerland kein mit dem Südpol verbundenes Festland ist, wie man bis dahin glaubte, sondern eine Inselgruppe. Sie gaben dem südlichsten Punkt den Namen ihres holländischen Heimathafens. Kapitän Fitz Roy, Kommandant der Beagle, mit der Charles Darwin um die Welt reiste, entdeckte dann 1834 den nach seinem Schiff benannten Beagle-Kanal, der nördlich von Kap Hoorn zwischen der Hauptinsel und der Isla Navarino verläuft und einen Weg in geschützte, vergleichsweise ruhige Gewässer eröffnete.

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Aber es war ein Deutscher, der Flugpionier Günther Plüschow, der den Archipel erstmals aus der Luft sah. Am 3ten Dezember 1928 brachte er mit seiner offenen, einmotorigen Doppeldecker-Maschine vom Typ Heinkel He 24 W mit der Kennung „Tsingtau D 1313“ die erste Luftpost von Punta Arenas nach Ushuaia. Drei Jahre später verunglückte er zusammen mit seinem Bordmechaniker Ernst Dreblow nahe des Perito-Moreno-Gletschers am Fitz- Roy-Massiv tödlich, als das Flugzeug in den Rio Brazo stürzte. Noch heute wird Plüschow auf Feuerland sehr verehrt; Straßen tragen häufig seinen Namen, in Museen findet man umfangreiche Dokumentationen über ihn und auf dem Gelände des Aeroclub von Ushuaia ist seit 2011 eine originalgetreue Replik seines Doppeldeckers ausgestellt, der leider beim letzten Sturm eine der Tragflächen abgebrochen ist. Seine Eindrücke hat Plüschow in seinem abenteuerlichen Reisebericht „Silberkondor über Feuerland: Mit Segelkutter und Flugzeug ins Reich meiner Träume“ dokumentiert, ein auch heute noch sehr lesenswertes und faszinierendes Buch. Die ersten bewegten Bilder aus der Luft von der überwältigenden Schönheit Südpatagoniens und Feuerlands zeigte sein gleichnamiger Film.

Wie kam Feuerland zu seinem Namen? Der Chronist Magellans, Pigafetta, behauptet, bei der Ankunft seien schon aus großer Entfernung überall entlang der Küste die lodernden Feuer der einheimischen Völker zu sehen gewesen. Andere wiederum sagen, die Inseln tragen den Namen aufgrund des sich im Herbst leuchtend-rot verfärbenden Waldes. Wir sagen, wer Feuerland einmal erlebt hat, ist „Feuer und Flamme“, so wie wir. Vielleicht sind es aber auch die spektakulären Sonnenuntergänge, die die Kulisse majestätischer schneebedeckter Berge an langen Sommerabenden in sanftes, geradezu magisches Licht tauchen, die der Inselgruppe den Namen geben.

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Der Norden Feuerlands besteht aus flachem Tafelland mit kargem Bewuchs, der Süden hingegen erinnert uns stark an das bergige chilenische Patagonien mit undurchdringlichen Wäldern, welches wir schon kennen. Hier finden sich die letzten Ausläufer der Anden-Kordillere mit vergletscherten Gipfeln bis zu 2.500 Metern Höhe.

Kilometer um Kilometer fahren wir auf der Ruta 3, der Panamericana, weiter in den sich immer mehr verjüngenden Zipfel dieser Wundertüte namens Südamerika. Wir haben die Landkarte des riesigen Kontinents vor unserem geistigen Auge und das Gefühl, über die immer schmaler werdende Landmasse zu rutschen und in die eisigen antarktischen Fluten zu stürzen, wenn wir Unimoppel nicht rechtzeitig zum Stehen bringen.

Welthauptstadt der Forelle

Ushuaia am südlichsten Ende Feuerlands liegt noch ca. 450 Kilometer entfernt und wir müssen ein Stück durch Chile fahren, um dorthin zu kommen. In Monte Aymond verlassen wir Argentinien und reisen wieder in Chile ein. Die Pan Am trägt hier den schönen Namen „Ruta del Fin del Mundo“ – Straße zum Ende der Welt. Genau da möchten wir hin.

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Die chilenischen Grenzformalitäten kennen wir schon im Schlaf und haben wieder eine Banane, eine Zwiebel und ein paar Kartoffeln strategisch gut auffindbar im Wagen platziert. Diesmal heißt es jedoch mit einem verschmitzten Grinsen des Grenzbeamten „Eat banana“, was Hugo prompt erledigt. Zwiebeln und Kartoffeln wandern abends vermutlich in den Kochtopf des Grenzers, der gute Chia-Samen usw. bleibt uns erhalten :-).

Eine Fähre setzt uns in einer halben Stunde über die Magellan-Straße, dann sind wir auf Feuerland angekommen. Der Archipel mit seiner Hauptinsel und zahlreichen vorgelagerten Eilanden ist der südlichste Punkt der Erde, der nicht von ewigem Eis überlagert ist. Der deutlich größere Teil gehört zu Chile, aber der argentinische Teil ist erheblich dichter besiedelt. Über einige Jahre lockte die Regierung Argentiniens Unternehmen und Siedler mit Steuerfreiheit und anderen Vergünstigungen, die inzwischen aber wieder abgeschafft wurden. Die Menschen sind Wind und Wetter zum Trotz geblieben.

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Die staubtrockene Pampa mit ihrem ewig gelben Büschelgras, den Schafen und Guanacos setzt sich auch auf Feuerland fort und die „Straße zum Ende der Welt“ fühlt sich im chilenischen Teil genauso an, wie man sich eine „Straße zum Ende der Welt“ vorstellt: als eine von abgrundtiefen Schlaglöchern übersäte schlechte Piste. Trotz Luftablassens ist die Fahrt streckenweise eine Tortur und wir kommen nur langsam voran. In San Sebastian wechseln wir dann wieder von Chile nach Argentinien; die Genzübergänge liegen durch zwanzig Kilometer Niemandsland voneinander getrennt. Als wir am argentinischen Posten aus dem Wagen steigen huscht neben uns ein kleines Gürteltier durchs Gras. Die PanAm ist ab hier wieder geteert und wir steuern Rio Grande, eine windzerzauste Hafenstadt an der Atlantikküste an, um Lebensmittel und Diesel zu bunkern. Am großen Kreisverkehr vor der Stadt staunen wir nicht schlecht:

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Wir sind in der „Welthauptstadt der Forelle“ angekommen und wie wir im Laufe des Tages auf Bildern sehen, die überall hängen, werden hier Exemplare mit bis zu 17 Kilo Gewicht gefischt. An dieser Stelle Gruß an Thomas: Die Meßlatte in puncto Forellen liegt jetzt natürlich deutlich höher!

Angler und Fliegenfischer schwärmen über die gewichtigen Meerforellen, die hier in den kalten Küstenflüssen gefangen werden können. Die Forelle ist kein endemischer Fisch in Feuerland, sondern erste Exemplare der Lachsforelle wurden von John Goodall 1935 eingeführt, fanden reiche Nahrung in den Flüssen und wanderten ins Meer hinaus. Da die Bestände kontrolliert werden ist wildes Angeln nicht erlaubt, sondern man muß zuvor eine nicht ganz billige Angellizenz erstehen. Amerikanische Spezialveranstalter wie The Fly Shop bieten Pauschalarrangements mit Aufenthalt auf einer der umliegenden estancias an, die pro Woche gerne auch mal USD 5000 kosten – ohne Flug, wohlgemerkt.

Der Wind hier auf Feuerland ist mörderisch. Für die Nacht suchen wir eine geschützte Stelle außerhalb von Rio Grande hinter einem Felsenhügel in den grasbewachsenen Dünen am Atlantik. Der Tidenhub beträgt hier bis zu 15 Metern, also fahren wir nicht bis ans Wasser. Viele Wasservögel sind hier zuhause oder im hiesigen Sommer zu Gast; einige der schön gefiederten Schnepfen- und Gänsearten kommen aus der arktischen Tundra und legen auf ihrer Reise über 17.000 km pro Strecke zurück. Wir sehen viele dieser Langstreckenflieger, die hier in den Dünen und Lagunen entlang des Ozeans ihren Nachwuchs großziehen.

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Hinter Rio Grande geht die Fahrt durch die Steppenlandschaft weiter, dann ändert sich die Landschaft allmählich. Nach langer Zeit – seit unserer Abreise aus Coyhaique vor einer Woche – sehen wir erstmals wieder Flächen mit Bäumen, wenig später wird es bergig.

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Happy Feet

Kurz hinter Rio Gallegos biegen wir von der PanAm auf eine unbefestigte Piste ab, die uns 130 Kilometer weit zur Reserva Natural Cabo Virgenes führt, dem südlichsten Punkt des patagonischen Festlandes. Eine Entscheidung, die, was wir noch nicht wissen, einen Umweg von rund 200 unbequemen Kilometern für uns bedeuten wird, die wir aber nicht ansatzweise bereuen, denn wir werden mit einem besonders schönen Erlebnis belohnt.

Die lange Fahrt durch die Pampa, die hier bis ans Meer reicht, führt an einem halben Dutzend verstreut liegenden, aber auffallend schön herausgeputzten estancias vorbei. Haupt- und Nebengebäude sind strahlend-weiß verputzt, tragen rote Dächer und sind wie ein kleines Dorf angelegt; sogar ein winzige Kirche mit Glockenturm ist vorhanden. Die Einfahrten sind mit alten, gut restaurierten großen Wagenrädern aus schwarz lackiertem Holz geschmückt, die einen Durchmesser von zwei Metern und mehr haben. Wir wundern uns, welches Vermögen in dieser Abgeschiedenheit offensichtlich mit Schafzucht erworben werden kann. Aber wenn etwas zu schön scheint, um wahr zu sein, dann ist es das auch meistens nicht. So auch hier. Wir wiegen uns nur wenige Kilometer in der Illusion, dann entdecken wir in der Pampa die schwarzen, sich behäbig auf und ab bewegenden Ölpumpen und die oberirdisch verlaufenden Gasleitungen. Die estancias stehen auf flüssigem Gold, die Schafe sind nur noch Dekoration, Hobby oder eine Verneigung vor der Vergangenheit und den ersten Siedlern, die mit ihrem Mut, ihrer Zähigkeit und ihrer ehemals spartanischen Lebensweise den Grundstein für das heutige Vermögen gelegt haben. Für unsere Weiterfahrt am Nachmittag wird das Konsequenzen haben, an die wir zu diesem Zeitpunkt im Traum nicht denken.

Hier am Cabo Virgenes, ganz in der Nähe des Leuchtturms, findet sich jedes Jahr für sechs Monate eine große Kolonie von Magellan-Pinguinen ein; bis zu einer halben Million der nur 30 bis 40 cm großen und nur 4 kg schweren Tierchen sind schon gezählt worden. Trotz der Öl- und Gasvorkommen wurde das Gebiet offiziell als strikte Schutzzone deklariert und bislang scheint das Nebeneinander von Petrochemie und Naturschutz ohne Störfälle zu funktionieren.

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Pinguinpaare sind lebenslang monogam und die Partner finden sich hier jedes Jahr ab September für sieben bis acht Monate wieder zusammen, um in Strandnähe das gleiche Nest im Boden unter den Calafate- und Senecio-Büschen wie im Vorjahr zu beziehen. Jedes Weibchen legt zwei Eier, die vierzig Tage ausgebrütet werden, wobei die Eltern sich abwechseln. Die possierlichen Küken mit ihrem flaumigen grauen Federkleid wiegen beim Schlüpfen gerade einmal 80 Gramm, sind die ersten Tage blind, schreien dafür aber um so lauter nach Nahrung. Unentwegt marschieren die Eltern auf ihren happy feet zum Meer, um Fische für ihren Nachwuchs zu fangen, und müssen dabei mehrmals am Tag Strecken von bis zu 800 Metern bis zum Strand und wieder zurück zurücklegen. Jetzt, um diese Jahreszeit, beginnt gerade der Gefiederwechsel bei den Küken und einige sehen etwas gerupft aus. Erst wenn dieser abgeschlossen und das dichte, kälteisolierende Federkleid gewachsen ist können die Jungtiere ins Meer, um selbständig Nahrung zu suchen. Die größte Gefahr für die Kleinen lauert in der Luft: Für die Raubmöwen sind sie ein Leckerbissen.

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Wir können uns kaum losreißen. Die Tiere zeigen überhaupt keine Scheu oder Angst vor uns. Ein neugieriger Pinguin kommt auf mich zugetappst und zupft mit seinem Schnabel immer wieder vorsichtig an meinem Hosenbein.

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Als ich leise mit ihm spreche, schaut er mich aufmerksam an und legt den Kopf abwechselnd erst auf die eine, dann auf die andere Seite, immer wieder, so würde er das Gesagte abwägen. Blicke, die trotz des eiskalten Windes, der über den Strand und die Kolonie fegt, jedes Herz zum Schmelzen bringen.

Unter fast jedem Busch gibt es eine Erdhöhle, die von Pinguinpaaren und ihrem Nachwuchs bewohnt ist. Auf dem Weg zum Strand gibt es regelrechte Pinguin-Highways, wo die Tiere zu Tausenden mit herausgedrücktem Brustkorb miteinander quatschend entlang watscheln und dabei aussehen wie vornehme, in feine Fracks gekleidete Gäste der Bayreuther Festspiele. Der Geruch hält sich überraschend in Grenzen, aber die Lautstärke in der Kolonie ist schon enorm. Wenn Pinguine etwas zu sagen haben, dann legen sie den Kopf weit in den Nacken, wackeln mit ihren Stummelflügeln, als wollten sie einen Raketenstart hinlegen, holen einmal ganz tief Luft und legen dann los. Was herauskommt hört sich ungefähr so an wie ein sehr lauter sehr langer Eselsschrei.

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In unmittelbarer Nähe zum Brutgebiet der Pinguine liegen an Land und im Meer einige Gas- und Erdölförderanlagen, die – hoffentlich – strengen Überwachungsrichtlinien unterliegen. Nicht auszudenken, wenn es hier zu einem Leck käme. In kürzester Zeit wäre die gesamte Kolonie dahin und die Schäden für das sensible Ökosystem von Cabo Virgenes wären irreparabel.

Nachdem wir ein 500.000faches Adoptionsverfahren eingeleitet haben reißen wir uns von den happy feet endlich los und machen wir uns auf die Weiterfahrt. Laut Karten und sämtlicher uns zur Verfügung stehender Navis gibt es entlang der Küste eine Piste, eine offizielle Landstraße, die uns auf kürzestem Weg bis unmittelbar vor den argentinisch-chilenischen Grenzübergang Monte Aymond bringt. Guter Dinge fahren wir los, finden aber die Abzweigung nicht. Wir fahren ein kleines Stück zurück und stellen fest, daß die Weggabelung im schmucken „Dorf“ der Estancia El Condor liegt. Leider wird sie durch ein massives, abgeschlossenes Tor versperrt. Also gut, dann fragen wir halt nach…

Wir suchen das Verwaltungsgebäude der Farm, klopfen an die Tür mit „administracion“, die von einem jungen bebrillten Mann geöffnet wird. Ich erkläre ihm unser Anliegen, er sieht unseren Wagen und macht große Augen, aber er kennt noch nicht einmal die Straße, die wir suchen. Er bittet mich, einen Moment zu warten und kommt zurück mit dem JR der Pampa. Ein stattlicher, stolzer älterer Herr mit gepflegtem Schnurrbart in blankgeputzten Reitstiefeln aus Leder, hellbraunen Breeches, dezent grün-kariertem Flanellhemd und farblich abgestimmter Weste mit lederbezogenen Knöpfen gibt mir die Hand. Sehr aufrecht mit durchgedrücktem Rücken steht er wie ein General vor mir und schaut mich prüfend an. Ob er der Besitzer oder der Verwalter der estancia ist kann ich im Gespräch nicht herausfinden, auf jeden Fall scheint er wichtig zu sein. Ich erkläre ihm freundlich unsere Suche nach der Abkürzung und unseren Wunsch, bleibe aber mit unserem Anliegen erfolglos. Die Piste gibt es zwar, gehört aber seit über zwanzig Jahren zum Privatbesitz der estancia, und darf von Außenstehenden nicht befahren werden. Öl und Gas auf dem Grund und Boden, da lässt man sich wohl nicht so gerne in die Karten schauen. Wir verhandeln noch ein bisschen hin und her, aber er bleibt hart und ich muß unverrichteter Dinge wieder gehen. Für uns bedeutet das eine 130 km lange Rückfahrt auf einer mäßig guten Piste bis kurz vor Rio Gallegos, um dann auf die PanAm Richtung Süden abzubiegen – ein Umweg, der uns Stunden kostet.

Pamparitt oder Pampalapapp

Unser nächstes Etappenziel ist Puerto San Julian an der Atlantikküste und die Fahrt dorthin wird uns quer durch Argentinien über die zentrale Hochebene führen. Das erste Teilstück, die Ruta 40 bis Gobernador Gregores, hat einen guten Asphaltbelag und wir jagen mit schwindelerregenden 75 km/h über die Straße. Anschließend liegen rund 200 Kilometer Piste vor uns. Je tiefer wir ins Landesinnere vordringen desto einsamer und wüstenhafter wird die Landschaft. Winzige Ortschaften mit nicht mehr als einer Hand voll Häuser liegen einhundert Kilometer und mehr auseinander. Die Pampa in dieser Region östlich der Andenkette ist auf den ersten Blick zwar eintönig, aber noch nicht langweilig. Die Perspektive ändert sich von Moment zu Moment und aus der wüstenhaften Ebene erheben sich Tafelberge, die wie überdimensionale Ziegelsteine in der Sonne rostrot bis aubergine schimmern. Wir sehen die schneebedeckten Gipfel der Anden wie große, am Horizont treibende Eisberge gemächlich vorbeiziehen.

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Da sich die Landschaft vordergründig kaum verändert scheint es, als wäre ein Kulissenschieber am Werk. Es sind die gleichen Gipfel, auf deren regnerischer Pazifikseite wir schon bis zum Ende der Carretera Austral gefahren sind. Auf ihrer argentinischen Seite liegen der Monte Fitz Roy und, weiter im Süden, der Nationalpark Los Glaciares mit dem Gletscher Perito Moreno und der Nationalpark Torres Del Paine. Wir lassen diese Highlights zunächst rechts liegen und heben sie uns für die Rückfahrt auf.

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Während wir mit Höchstgeschwindigkeit über die Ruta 40 zu fliegen scheinen sehen wir immer wieder kleine und größere Herden von Guanakos, die zu Tausenden die Savanne bevölkern und auf der Suche nach Nahrung umherstreifen. Um diese Jahreszeit sind viele halbwüchsige Jungtiere dabei.

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Die ausgewachsenen Tiere mit den ausdrucksvollen dunklen Augen haben das Schultermaß eines kleinen Pferdes, aber einen deutlich schmaleren Körperbau. Auf dem steinigen Boden der Pampa gedeiht nicht viel, aber die Tiere sind sehr genügsam und das wenige Wasser, was sie benötigen, ziehen sie aus den Pflanzen.

Die zum Schutz der Autofahrer vor Wildunfällen beidseitig eingezäunte Ruta 40 führt durch ihr Weiderevier, aber die Zäune halten die Tiere mit ihren langen Beinen nicht vom Wechsel ab. Auch in der Pampa scheint das Gras auf der anderen Seite grüner zu sein…

Wir sehen Guanakos an der Straße, auf der Straße, vor dem Zaun, hinter dem Zaun und leider auch häufig über dem Zaun. Immer wieder geschieht es, daß Tiere beim Versuch, die hohen Zäune zu überspringen, mit ihren langen Hinterläufen am Draht hängenbleiben, nicht mehr freikommen und dann elendig verhungern oder sich zu Tode strampeln. Übrig bleiben nur die Knochen und das Fell.

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Lustig anzuschauen sind dagegen die Familien der flugunfähigen Nandus, die hier in Argentinien Rhea heißen. Mütter mit bis zu zwanzig Jungen picken seelenruhig am Straßenrand in den Gräsern, sprinten aber blitzartig los, sobald sie das Brummen des Unimogs hören oder seine Vibrationen spüren. Mit ihren langen, kräftigen Beinen sind sie sehr schnell und liefern sich ein regelrechtes Wettrennen mit uns.

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Gobernador Gregores entpuppt sich als staubiges Drecknest, das nicht zum Verweilen einlädt. Durch den ständigen Wind verteilt sich der Müll besonders effizient und die vielen dünnen Plastiktüten verteilen sich Kilometer weit in die Steppe hinein, bis sie an einem der niedrigen Büsche hängenbleiben und dort für Jahrzehnte wie rosa Fähnchen im Wind wehen. Bis Puerto San Julian liegen jetzt noch rund zweihundert Kilometer Piste vor uns, die zunehmend schlechter wird. Auf den letzten siebzig Kilometern bis zur ersehnten Atlantikküste wechselt Wellblech zu tiefen Spurrillen im groben Kies und betonhartem trockenen Schlamm. Dazu bläst unaufhörlich der Wind. Die Fahrerei ist mühsam; Spaß geht anders. Dazu hat die Landschaft auf 360 Grad die Farbe von aufgewärmter Erbsensuppe angenommen und ist an Monotonie kaum noch zu übertreffen. Wir haben nach Stunden den Eindruck, wie auf einem Simulator auf der Stelle gefahren und keinen Meter vorwärts gekommen zu sein. Auge und Geist sind irgendwann völlig erschöpft, das Gehirn hat sich im Leerlauf heiß gelaufen und wir haben jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren. Die einzige Abwechslung ist eine große Herde wilder Pferde, die fast geisterhaft plötzlich aus dem braungelben Einerlei auftaucht, vor uns gelassen die Piste überquert, um dann galoppierend am Horizont zu verschwinden.

Wir sind froh, als wir am späten Nachmittag die weite Bucht von Puerto San Julian türkisfarben vor uns liegen sehen. Im März 1520 lief hier die Flotte Magellans zum Überwintern ein und in Erinnerung an diese Zeit liegt heute an der Uferpromenade eine Replik der Nao Victoria in Originalgröße. Mit 25 Metern Länge war der Segler nicht mehr als eine Nussschale, aber sie kehrte 1522 als einziges der fünf Schiffe mit knapper Not und wurmzerfressen von der ersten vollständigen Weltumsegelung nach Andalusien zurück. Ruhm und Opfer waren gleichermaßen groß: Von insgesamt 256 Seeleuten hatten nur 18 die Expedition überlebt.

Nach einem Bummel über die windumtoste Promenade setzen wir unsere Fahrt durch die Pampa mit dem nächsten Etappenziel Rio Gallegos in 350 Kilometern Entfernung fort. Wir sind wieder auf der Panamericana unterwegs, die wir bis zu ihrem letzten Meter bis Ushuaia fahren werden. Aber bevor wir mit der Fähre über die Magellanstraße nach Feuerland übersetzen gönnen wir uns noch einen Besuch bei den … Happy Feet.

Textaufgabe

Ein Unimog fährt am 2.1.2015 mit 75 km/h auf der argentinischen Ruta 40 von Nord nach Süd. Der Fahrer ist 54, die Beifahrerin 51 Jahre alt. Um exakt 18.56 Uhr beginnt eine Fahrbahn, die bis zum Horizont schnurgerade verläuft. Um exakt 19.18 Uhr kommt nach schnurgeradem Verlauf die erste Kurve.

Frage: Wie lang ist die zurückgelegte Strecke von 18.56 Uhr bis 19.18 Uhr?

Hilfestellung: Der Unimog ist dreißig Jahre alt, der Fahrer fliegt Gleitschirm und die Beifahrerin liebt Reeses Peanut Butter Cups.

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Dem ebenen Gelände angepasst führen die Straßen und Pisten durch die Pampa einfach immer geradeaus, machen nach zwanzig und mehr Kilometern vielleicht mal einen kleinen Knick, um danach wieder eine halbe Ewigkeit ohne auch nur die Andeutung einer Kurve weiter zu verlaufen. Ein Autopilot für den Unimog wäre nicht schlecht…

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Neues Jahr – Neues Land

Die Nacht des Jahreswechsels haben wir in einem Zauberwald außerhalb von Coyhaique verbracht, dicht umschlossen von Bäumen, deren Äste und Stämme mit langen Flechten, fein wie zerrissene Gaze, besetzt waren. Wir haben mit chilenischem „Champagner“ um 20.00 Uhr ins neue Jahr angestoßen, denn der Zeitunterschied zu Deutschland beträgt in der Winterzeit nur vier Stunden. Müde wie wir vom Tag waren, haben wir den chilenischen Wechsel dann verschlafen.

Nach drei Monaten ist es Zeit für uns, dieses wunderbare Land zu verlassen, zumindest vorübergehend, denn um nach Ushuaia zu gelangen müssen wir weiter südlich noch einmal ein Stück durch Chile. Über den Paso Huemules reisen wir mit einer Mischung aus Abschiedswehmut und viel Neugier auf Argentinien aus.

In dem kleinen Grenzort Balmaceda, der außer dem Flughafen Coyhaiques und der Zollstation nur eine Handvoll geduckter Häuschen vorzuweisen hat, möchten zwei kleine Jungs gerne unser Auto sehen. Kein Problem, nur als Cesar und Oliviero erst einmal drin sind, möchten sie nicht wieder aussteigen. Auf unsere leise Anmerkung, daß wir dann doch mal langsam gerne weiterfahren möchten, erklären die beiden Jungs selbstbewusst, wir könnten sie ja mitnehmen und versuchen uns mit einer sehr sauren Stachelbeere zu bestechen. Wir kontern nicht ganz fair, aber wirksam, mit einem Stück Kinderschokolade.

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Die chilenische Grenzstation ist winzig und nur drei orangefarbene Plastikhütchen auf dem Weg trennen chilenischen von argentinischem Grund und Boden. Wir begrüßen die Grenzbeamten mit einem „Feliz Ano Nuevo“ und werden daraufhin unversehens herzlich umarmt und auf die Wange geküsst. Stempel Stempel Stempel – und schwupps sind wir draußen. Ein paar Kilometer weiter ist die argentinische Grenze.

Die Grenzer sind ebenfalls freundlich, die Formalitäten für uns und das Auto schnell und ohne Lebensmittelkontrolle erledigt. Schon sind wir in Argentinien, dem Land des Fußballs (naja), des Tango (schööön) und der großen Steaks (Hugo freut sich schon ein Loch in den Bauch).

Damit erst gar keine Missverständnisse aufkommen wird man direkt an der Grenze großformatig belehrt, wem die Falklandinseln denn nun wirklich gehören:

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Hier am Grenzposten endet die asphaltierte Straße und eine zwar breite, aber knochenharte Piste beginnt, der Zubringer zur legendären Ruta 40, die ab Rio Mayo weiter nach Süden führt. Wir lassen unseren Bandscheiben zuliebe ein Viertel Luft aus den Reifen, was die Fahrerei etwas erträglicher, aber nicht komfortabel macht. Die Landschaft ändert sich fast schlagartig. Nach wenigen Kilometern haben wir das grüne, dicht bewachsene Berg- und Farmland des chilenischen Patagoniens hinter uns gelassen. Vor uns liegt die staubtrockene argentinische Pampa, bis zum Horizont ein endloses Meer aus gelbem Büschelgras und struppigen Sträuchern von einem knappen Meter Höhe. In der Distanz verlieren sich alle Konturen und soweit das Auge blicken kann reckt kein einziger Baum seine Äste in den Himmel. Die alles dominierende Farbe der Landschaft ist die der typischen bessergestellten Hamburgerin Anfang/Mitte 50: Ton-in-Ton Gutedelbeige, nur trägt die Pampa keine Goldknöpfchen und Perlenketten.

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Hier, im Regenschatten der Anden, liegen rechts und links der Piste die Weideflächen großer Estancias. Manche sind so groß, daß sie auf der Landkarte Argentiniens mit ihren Namen eingezeichnet sind und zwischen ihnen oder dem nächst erreichbaren Ort liegen durchaus mal eben einhundert Kilometer oder mehr. Das argentinische Patagonien ist das Land, wo in großem Maßstab Schafe gezüchtet werden. Zu Tausenden grasen sie vor und hinter den Zäunen, die die Ruta 40 begrenzen. An unseren Stellplätzen für die Nacht können wir bei Einschlafen durch die Fenster die Schäfchen zählen…

In starkem Kontrast zur Stille der Landschaft steht die Dynamik des Himmels, der mehr Dramatik kaum bieten könnte. Ein starker Wind fegt tief über uns gewaltige Wolkenberge über die Ebene, die sich vor dem strahlend blauen Hintergrund scharf abzeichnen.

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Irgendwo in der Antarktis und bislang unentdeckt muß es eine Wettermaschine geben, die pausenlos neue Wolken und Wind produziert und mit starkem, eiskaltem Atem nordwärts über die Pampa pustet. Ab und an stehen an der Straße Schilder, die die vorherrschende Windrichtung anzeigen.

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In Perito Moreno lassen wir einen Riss an unserem Auspuff schweißen und fahren dann die Petrobras-Tankstelle an, um das dortige Wi-Fi zu nutzen. Als wir aussteigen fährt ein großer Wagen mit brasilianischem Kennzeichen dicht neben uns und mir fast bis vor die Füße. Ich überlege noch, was „Du Spinner“ wohl auf Spanisch heißt, als ich im Cockpit Marinés und Enio aus Rio erkenne, die wir ganz am Anfang unserer Reise im April in Uruguay kennengelernt haben. Der Kontinent ist so groß und dann trifft man sich ganz unverhofft irgendwann wieder, in diesem Fall im wahrsten Sinne des Wortes in der Pampa. Nach einem gemeinsamen Kaffeeplausch trennen sich unsere Wege wieder. Das Routing der beiden symphatischen Brasilianer in den nächsten Wochen ist etwas anders ausgelegt als das unsrige, aber wir sind sicher, die beiden auf dem Weg nach Ushuaia nochmals zu treffen. So viele Wege führen schließlich nicht ans Ende der Welt.

Kann man einen Traum fahren?

Man kann. Wir haben uns einen Traum erfüllt und sind die Carretera Austral bis zum letzten Meter gefahren, rund 1.200 Kilometer von Nord nach Süd und dazu ein paar Hundert Kilometer rechts und links in die Seitentäler. Jeder Einzelne hat sich gelohnt und wir möchten die Erfahrungen nicht missen.

Wir haben die Schönheit des immergrünen kalten Regenwaldes und die Faszination alter weiß-blauer Gletscher erlebt, das türkisfarbene Leuchten der großen Ströme Patagonies, einen vollendeten Regenbogen über dem Lago Carrera, die Farbenpracht von Lupinenfeldern, rauschende Wasserfälle und verschwiegene Strände.

Sind wir jetzt traumlos? Im Gegenteil, wir haben uns Appetit geholt, das Erlebte macht Lust auf mehr, viel mehr, zum Beispiel auf einen Flug über die patagonischen Eisfelder.

Wir werden wiederkommen, soviel steht fest.

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Chile Chico

Unsere Freude ist groß, als wir von Mercedes Kaufmann in Coyhaique die Nachricht erhalten, daß unsere Ersatzteile für die Heizung angekommen sind. Die Chance, noch in diesem Jahr einmal heiß duschen zu können, steigt.

Die weitere Fahrt führt uns entlang des steilen Südufers des langgezogenen Lago General Carrera. Die rund 120 Kilometer lange mässig gute Piste bis Chile Chico entpuppt sich als abenteuerliche, kurvenreiche Strecke mit traumhaften Ausblicken auf den See, seine malerischen Buchten und die schneebedeckten Gipfel im Hintergrund. Allmählich ändert sich die Landschaft, vom dichten patagonischen Regenwald gibt es schon bald keine Spur mehr, es wird trockener und karger. Im Osten flachen die Hügel ab und man kann schon die Ebene der argentinischen Pampa erahnen.

Von Chile Chico aus, nur fünf Kilometer von der argentinischen Grenze entfernt, wollen wir die Fähre über den Lago Carrera nach Puerto Ibanez nehmen. Als wir am Abend vor der Überfahrt durch den mit breiten Straßen großzügig angelegten Ort cruisen und an der plaza halten, um mal wieder staatlich gesponsortes Wi-Fi abzuzapfen, klopft es plötzlich an der Tür: „Do you have friends Anette and Klaus?“ Jaaaa, haben wir und wir jagen gerade hinter ihnen her, aber woher weiß die charmante blonde Dame das??? Wir sind perplex, kramen in unserem Gedächtnis, aber weder Hugo noch mir kommt ihr Gesicht oder das ihres Begleiters bekannt vor.

Im Gespräch stellt sich dann heraus, daß die Dame aus Belgien stammt, ebenfalls auf Reisen ist und Anette sie und ihren Begleiter in der Lodge in Caleta Tortel kennengelernt hat.

Beim Abschied hat Anette sie wohl gebeten, uns zu grüßen, sollten wir uns zufällig irgendwo begegnen und prompt laufen wir uns in Chile Chico über den Weg. Grund für ein gemeinsames Bier in unserem Wohnzimmer !

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Am nächsten Morgen müssten wir eigentlich schon um 7.00 Uhr im Hafen sein, da dann für eine Stunde das Ticketbüro der Reederei öffnet. Die einzige Fähre nach Puerto Ibanez an diesem Tag legt bereits um 8.00 Uhr ab und da es der erste Werktag nach den Weihnachtsfeiertagen ist und noch dazu die touristische Hochsaison begonnen hat gehen wir von einem ziemlichen Andrang aus. Prompt verschlafen wir und werden erst um 7.20 Uhr wach. Frühstück fällt aus, wir fliegen in unsere Klamotten und jagen zum Hafen. Mit einem Parkplatz sieht es eng aus, noch dazu schieben die carabinieros Wache und so sprinte ich ins Ticketbüro, während Hugo draußen mit dem Unimog Kreise zieht. Die Schlange am Ticketschalter ist tatsächlich lang und ich sehe uns schon tagelang in Chico Chile auf die nächste Fähre warten. Aber das Personal arbeitet äußerst effizient, Kreditkarte ist kein Problem, das System funktioniert sogar im ersten Anlauf und um 7.50 Uhr habe ich Tickets für die 8.00 Uhr-Fähre, die bereits am Pier angelegt und mit dem Verladen der Fahrzeuge begonnen hat. Jetzt müssen wir nur noch samt Unimog an Bord kommen, aber wir werden überraschend vorgewunken und unversehens stehen wir hinter einem Viehtransport auf dem Schiff.

Die gut zweistündige Überfahrt über den spiegelglatten See mit seinen schönen Ausblicken ist wie eine kleine Kreuzfahrt. Beim Blick in das türkisfarbene Wasser fühlt man sich ein bisschen wie in die Karibik versetzt, nur weht dort der Wind nicht so kalt. Ab und an fallen ein paar Tropfen Regen und so kann das Schiff vor der Ankunft sogar durch einen bunten Regenbogen fahren.

In Puerto Ibanez angekommen geht es auf schnellstem Weg weiter nach Coyhaique. Dort holen wir die Ersatzteile bei Mercedes Kaufmann ab und Hugo baut den Brenner und die Steuerung noch am gleichen Tag in die Heizung ein. Beim Anlassen drücken wir fest die Daumen – sie funktioniert auf Anhieb! In kurzer Zeit sind zehn Liter Wasser auf eine Temperatur von sechzig Grad gebracht und wir gönnen uns nach über zwei Monaten die erste heiße Dusche! Ein unvorstellbarer Luxus! Besser kann das alte Jahr nicht enden…

Capillas de Marmol

Vroni und Ignacio haben wir in Cochrane abgesetzt; sie wollen von hier zur argentinischen Grenze. Unser Ziel heißt zunächst Puerto Tranquilo, wo wir die Capillas de Marmol besichtigen möchten, die wir auf der Fahrt nach Süden aufgrund schlechten Wetters haben ausfallen lassen. In Puerto Tranquilo angekommen schrauben wir uns mit dem Unimog einen dicht mit rosa blühenden Heckenrosen bewachsenen Steilhang hinunter und übernachten am Ufer des Lago Carrera unter haushohen Weidenbäumen.

Am nächsten Morgen sind uns die Wettergötter hold und wir fahren mit einem kleinen Boot zu den „Marmorkapellen“. Die bizarren Felsgebilde nahe des Ufers reflektieren den türkisfarbenen See und das Sonnenlicht. Mit viel Geschick manövriert uns der Bootsführer direkt in die Felshöhlen aus hellem, vielschichtigem Marmor hinein. In den Grotten leuchtet der See fast noch stärker. Die Oberfläche des Stein sieht aus wie dezent farbige Rochenhaut.

Die großen Felsbrocken sind vor vielen tausend Jahren von der gigantischen Wand aus Marmor abgebrochen, die sich am Ufer über uns erhebt. Das Seewasser hat sie im Laufe der Zeit unterspült und ausgehöhlt. Einige der dicken Brocken stehen heute nur noch auf filigranen Stelzen.

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PST

Die drei Buchstaben stehen für „Patagonia sin Tompkins“ und wir haben unterwegs auf Autos, Schildern, Häuserwänden oder auch Rucksäcken von jungen Travellern häufiger Aufkleber mit diesem Claim gesehen. Wir fragen nach, was es damit auf sich hat.

Es geht mal wieder um Douglas Tompkins. Genau, den Gutmenschen, der den Parque Pumalin eingerichtet und das Gebiet unter Naturschutz gestellt hat und auch gegenwärtig mit seiner Frau dabei ist, rund um Pumalin weiteres Land in Chile und Argentinien aufzukaufen. Und was ist daran so verwerflich, daß man Patagonien zur Tompkins-freien Zone erklären möchte? Neueste Gerüchte besagen, daß er das ganze Land kauft, um einen neuen Staat Israel zu errichten. Und wie kommt man zu dieser Annahme??? In den letzten Jahren seien auffallend viele Backpacker aus Israel in dieser Region gesehen worden… Soso, das Gerüchtesüppchen köchelt.

Flowerpower

Dorf ohne Straßen

Am ersten Weihnachtstag verlassen wir Villa O´Higgins über den gleichen Weg, den wir gekommen sind; es gibt nur diesen einen. Mit der kleinen Bedarfsfähre, die zu unserem Erstaunen sogar an diesem Feiertag im Einsatz ist, überqueren wir den Rio Bravo, biegen dann hinter Puerto Yungay nach gut zwanzig Kilometern auf eine Schotterpiste nach Westen ab und folgen dem Lauf des Rio Baker bis fast zu dessen Mündung bei Caleta Tortel.

Die Piste endet oberhalb des Dorfes, welches malerisch an einem Meeresarm liegt. Wir lassen den Wagen stehen und gehen zu Fuß weiter, denn im Dorf gibt es keine Straßen, sondern nur Stege und Treppen aus widerstandsfähigem Zypressenholz, das Wind, Wetter und Salz trotzt. Es geht kreuz und quer treppauf und treppab, auch am Ufer entlang führt ein Kilometer langer Steg bis zum Strand. In der ehemals völlig isolierten Holzfällersiedlung ohne Zuwegung über Land steht alles auf Stelzen, auch die holzverschindelten Wohnhäuser, die Plazas, der Kindergarten, das Kulturzentrum und das Gebäude der Feuerwehr.

Wir bummeln durch den Ort, lassen die Beschaulichkeit und Ruhe auf uns wirken, bestaunen die vielen hier blühenden Pflanzen und entdecken am Strand ein farbenfrohes Open-Air-Fitness-Studio.

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Wie überall an Chiles Küsten sind die Fluchtwege bei Tsunamis auch hier in Tortel gut sichtbar ausgeschildert. Der Fjord, an dem der Ort liegt, ist zwar tief und das offene Meer noch weit entfernt, trotzdem ist die Gefahr einer blitzartigen Überflutung latent immer gegeben.

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Zurück am Parkplatz werden wir von Vroni aus Deutschland und ihrem Freund Ignacio aus Santiago angesprochen. Die beiden Studenten touren mit leichtem Gepäck durch Südamerika und suchen eine Mitfahrgelegenheit nach Norden. Ob am Weihnachtstag der Bus fährt und wenn ja wann weiß niemand hier so genau. Wir verfrachten die beiden kurzerhand in die Kabine und nehmen sie bis Cochrane mit.

Wir sind übrigens zu spät in Tortel: Auf facebook erfahren wir, daß Anette und Klaus Tortel inzwischen verlassen haben und in Puerto Guadal sind.

 

Christmas on Ice

Wir haben auf den nun endgültig letzten Metern der Carretera Austral direkt am Anleger der Quetru übernachtet, da die Tour ins Eis frühmorgens startet; insgesamt wird sie zwölf Stunden dauern. Der Wind fegt in unverminderter Stärke wie ein eiskalter Föhn horizontal über den milchig-grünen langgezogenen Arm des Lago O´Higgins. Das kleine Schiff mit seinem spitzen hohen Bug macht einen robusten Eindruck und kämpft sich Stunde um Stunde wild hüpfend durch die Wellen.

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Außer der Besatzung sind rund zwanzig Personen an Bord; einige Touristen und ein paar Polizisten. In Candelario Mancilla setzen wir eine Handvoll Wanderer ab, die zu Fuß weiter nach El Chaitén zum Parque Nacional Los Glaciares in Argentinien gehen wollen, nehmen die vor Tagen gestrandeten und jetzt erleichtert aufatmenden Wanderer an Bord, und die mitgefahrenen Carabineros nehmen die Plätze ihrer Kollegen ein.

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Hinter einer großen Felsnase erreichen wir dann den offenen Teil des Lago O´Higgins und der Wind nimmt nochmals zu. Hier fegen die Winde mit ungebremster Geschwindigkeit vom südlichen Eisschild über die niedrigen Hügel und die Gletscher talwärts. Wütend peitschen sie über das Wasser, so als wollten sie Eindringlinge davon abhalten, tiefer in die Welt des Eises einzudringen. Trotz Wind und Kälte verlassen wir den schützenden Innenraum der Quetru und gehen an Deck, wo wir uns an der Reling gut festhalten müssen, um nicht umgepustet zu werden. Souverän steuert der Kapitän – schwarzer Sweater, Jeans, viele Lachfältchen um die wie blankpoliert wirkenden Augen, graues kurzes Haar – das Schiff in den etliche Kilometer breiten Arm, an dessen Ende sich die Front des O´Higgins Gletschers in den See schiebt.

Die ersten kleinen und größeren Eisberge tauchen vor uns auf. Von durchscheinendem Weiß-Blau und unbeschreiblich schön, treiben sie auf der Oberfläche, manche nur einfache Schollen, manche filigrane kleine Eispaläste mit bizarren Formen.

Vor uns können wir den Gletscher erkennen, der sich wie eine gewaltige weiße Schlange vom südlichen Eisschild in den See schiebt. Je weiter wir uns dem Gletscher nähern desto stärker wird der Wind. Er fällt in rasender Geschwindigkeit über den Gletscher hinab und bläst uns frontal so stark entgegen, daß man kaum Luft holen kann.

Die eiskalte Gischt spritzt an den Bordwänden der über die Wellen hüpfenden Quetru bis über die Reling empor. Meter um Meter kämpft sich der Kapitän gegen den Wind näher an die Gletscherwand. Immer wieder nimmt er sein Fernglas zur Hand und beobachtet sehr genau die sich vor uns auftürmende über drei Kilometer breite und siebzig Meter hohe Wand aus Eis. Er fährt bis in ihren Windschatten, wo das Wasser fast still ist und der Wind schlagartig verstummt, so als hätte jemand einen eisigen Fön abgeschaltet. Wir sind keine siebzig Meter von der Gletscherfront entfernt, blicken an ihr hoch, haben das Gefühl, nur den Arm ausstrecken zu müssen um sie zu berühren. Es ist unbeschreiblich.

Der Himmel ist bedeckt und grau, aber selbst das wenige Licht mindert nicht das weiß-blaue  Farbenspiel des Eises. Es sieht aus, als würde der Geltscher von innen beleuchtet werden.

Wir fahren über Stunden immer wieder die Front entlang, aber die Zeit fliegt. Dann steigen zwei Besatzungsmitglieder zwar mit Schwimmweste, aber ohne vor der Kälte schützenden Überlebensanzug in ein Zodiac, um von einem treibenden Eisberg einige Stückchen abzuschlagen und an Bord zu bringen.

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Ein fragwürdiges Unterfangen, da gefährlich, aber es ist Heiligabend … da passiert schon nichts.

Die viele tausend Jahre alten Eiswürfel bekommen wir dann mit einem üppigen Schluck Whisky serviert, bevor der Kapitän beidreht und die Rückfahrt beginnt.

Kaum sind wir aus dem Windschatten des Gletschers, geht der wilde Tanz auf den Wellen erneut los, aber wir sind zum Glück seefest. Wir sind randvoll mit unbeschreiblichen Eindrücken, die sich nicht in Worte fassen lassen. Spätestens jetzt ist klar, daß sich eine ganz große Patagonia Love Story anbahnt, die durch nichts mehr aufzuhalten ist. Es hat uns restlos gepackt.

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Der letzte Meter

Die Piste zeigt mehr und mehr die Konsistenz eines Schweizer Käses, Schlagloch reiht sich an Schlagloch und das Fahren gleicht mehr einem Springen, aber das Panorama bleibt auch während der nächsten Stunden zum Staunen: Auf der einen Seite schimmert – auch bei bedecktem Himmel- türkisfarben der See Carrera auf der anderen Seite liegen die verschneiten Gipfel, die Straße dazwischen führt durch Wiesen, Wälder und gelbe Lupinen.

Bei Puerto Bertrand erreichen wir den Beginn des Rio Baker, der als wasserreichster Fluß Chiles und potenzielle Energiequelle gilt und damit seit einigen Jahren landesweit für erhitzte Gemüter und heftige Dispute sorgt.

Der internationale Energiemulti Endesa plant gemeinsam mit dem chilenischen Kraftwerksbetreiber Colbún vier große Staudämme, wobei die Täler rund um den Rio Baker und den kleineren Rio Pascua, insgesamt 6000 Hektar, geflutet werden sollen. Die Industrie, insbesondere die großen Minen des Landes und die dichtbesiedelte Zentralregion rund um Santiago, benötigen Energie, viel Energie. Einwohner und Umweltschützer torpedieren das Rio Baker-Projekt, da eine der großartigsten und unberührtesten Landschaften Patagoniens unter Wasser gesetzt würden und für die Stromtrasse eine gewaltige Schneise durch das Land getrieben werden müsste. Vielleicht sollte man mal einen Blick weit in den Norden des Landes werfen, in die menschenleere und lebensfeindliche Öde der Atacama. Dort gibt es jede Menge Platz und Sonne genug, um Solarfelder aufzustellen. Der ökologische Schaden wäre weitaus geringer.

Wir folgen dem Lauf des Rio Baker, der breit und grün durch Wald, Wiesen, felsige Canyons und später die braune Steppe rauscht. Das kleine, blitzsaubere Cochrane mit seinen rund 4.000 Einwohnern ist die letzte größere Siedlung an der Carretera Austral. Als wir in den Ort hineinfahren entdecken wir auf den Hügeln einen Touch von Hollywood: Was nicht ist kann ja noch werden, oder?

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Die meisten Patagonienbesucher kehren spätestens hier um, aber für uns geht es noch 233 Kilometer weiter nach Süden, denn wir möchten die Carretera wirklich bis zum allerletzten Meter fahren. Im Dorf decken wir uns in der fruteria mit frischem Obst und Gemüse ein, im mercado mit Milch, Brot und Käse. Dann zapfen wir das lokale Internet an und ich stelle auf facebook fest, daß eine Bekannte, Anette, mit ihrem Mann ebenfalls in Patagonien unterwegs ist. Selbstverständlich, daß wir sie über facebook anmorsen… vielleicht klappt ja irgendwo auf der Route ein spontanes Treffen?

Das letzte Stück der Carretera wurde erst nach 1994 gebaut bzw. vielmehr durch den dichten Urwald geschlagen und geschoben. Die Arbeiten müssen unvorstellbar anstrengend gewesen sein. Die unbefestigte einspurige Schotterpiste führt an Hochmooren und Sümpfen vorbei und die kurvenreiche Strecke gibt immer wieder wunderbare Ausblicke auf den nördlichen Eisschild und über weite unberührte Täler frei.

Tortel, einen kleiner Ort westlich der Carretera und nahe der Mündung des Rio Baker ins Meer, heben wir uns für die Rückfahrt auf, denn wir möchten Weihnachten in Villa O´Higgins, unserer „Endstation Sehnsucht“ sein. In Puerto Yungay – drei Häuser und eine Rampe – setzt uns eine kleine Fähre über den Fjord in gut dreißig Minuten nach Rio Bravo über – drei Häuser und eine Rampe.

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Auf der verbleibenden Strecke von 100 Kilometern fahren wir durch große Bambuswälder, sehen schön gezeichnete Wildgänse und erhaschen immer wieder Ausblicke auf das hier beginnende südliche patagonische Eisfeld und seine Gletscher.

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Dann erreichen wir das kleine Villa O´Higgins, den einsamen Posten in der patagonischen Wildnis mit 500 Einwohnern, und die teuerste Tankstelle Chiles: Der Diesel ist hier gute 30% teuer als im restlichen Chile, aber kein Wunder, muß doch jeder kostbare Tropfen den weiten Weg umständlich hertransportiert werden. Unsere großen Tanks sind zum Glück noch gut gefüllt 🙂

An der schön gestalteten Plaza zapfen wir wieder das staatlich geförderte Internet an und erfahren auf facebook, daß Anette und ihr Mann inzwischen in … Tortel sind, von dort nach Puerto Guadal am südlichen Ufer des Lago Carrera und anschließend zwecks Weiterflug nach Buenos Aires nach Coyhaique fahren. Knapp vorbei ist auch daneben, aber da wir auch nach Coyhaique zurück müssen, um unsere Ersatzteile bei Mercedes abzuholen, haben wir vielleicht noch eine Chance, sie dort zu treffen.

In Villa O´Higgins hat sich seit der Anbindung an die Carretera 1999 eine bescheidene touristische Infrastruktur entwickelt, da das Umland einiges zu bieten hat. Meist finden sich in diesem Nest Wanderer und Backpacker aus aller Herren Länder ein, und manchmal stranden sie geradezu, da nur sporadisch ein Bus fährt. Wir werden mehrfach um Mitfahrgelegenheit gebeten, da wir aber noch einige Tage hier verbringen möchten können wir spontan nicht wirklich helfen.

Die „Saison“ beginnt erst im Januar, daher ist noch nicht viel los. Eines Mittags suchen wir eines der winzigen Restaurants auf, nicht mehr als ein 20 qm großer wintergartenähnlicher Anbau am Wohnhaus der Familie. Wackelige Holztische und –stühle, mit selbstgehäkelten Deckchen und Lammfellen liebevoll dekoriert, ein Sammelsurium von Nippes auf den Fensterbänken und Simsen. Wir haben das Gefühl, bei unseren Großeltern im Wohnzimmer zu sitzen. Draußen pfeift der Wind so stark, daß das Gebälk des klapprigen Anbaus knirscht und kracht. Wir befürchten schon, mit ihm gemeinsam abzuheben. Da wir die einzigen Gäste sind und noch dazu aus Alemana ist uns die ungeteilte Aufmerksamkeit des gesamten Personals – Papa, Mama, Sohn – sicher. Es herrscht strikte Arbeitsteilung: Mama kocht nebenan, Papa macht den Service – formvollendet wie in einem Sternerestaurant – und der Sohnemann im Teenageralter schaut zu wie´s geht. Auswahl gibt es allerdings keine, es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. In diesem Fall eine geschmorte Hähnchenkeule und eine Portion Kartoffelbrei, von der selbst Rainer Kalmund pappsatt geworden wäre. Als Nachtisch bietet uns das symphatische Trio Obst aus der Dose an, welches wir dankend ablehnen, aber dann zaubern die Drei vom Bäcker frischen Zitronenkuchen herbei und mit unserer Standhaftigkeit ist es vorbei.

Die Carretera Austral endet sieben Kilometer hinter O´Higgins am gleichnamigen See, aber wir wollen noch ein Stückchen weiter, auch wenn es mit dem Wagen nicht geht, und so buchen wir für montags eine Tour auf der Quetru. Mehrmals wöchentlich fährt das kleine Kabinenschiff für maximal 50 Passagiere über den See, zunächst nach Candelario Mancilla, der letzten einsam gelegenen chilenischen Polizeistation zwecks Grenzbewachung, und dann weiter zum O´Higgins Gletscher, der sich vom südlichen Eisschild in den See schiebt. Er ist unser Ziel.

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Am Montag hat der Wind kein bisschen nachgelassen, sondern bläst noch immer mit unverminderten zehn Windstärken. Das Schiff fährt nicht. Am Dienstag auch nicht. Am Mittwoch hat der Wind zwar immer noch keinen Deut nachgegeben, aber das Schiff fährt trotzdem. Muß fahren, denn in Candelario Mancilla hängen seit drei Tagen einige Wanderer fest und außerdem ist zu Weihnachten an dem Polizeiposten Wachablösung vorgesehen. Wir stellen uns auf einen schaukeligen Heiligabend ein.

Pretty in Pink

Diese Disteln am Rand der Straße sind gut 1,5 Meter hoch und tragen Blüten so groß wie eine Männerfaust: