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Pretty in Pink

Diese Disteln am Rand der Straße sind gut 1,5 Meter hoch und tragen Blüten so groß wie eine Männerfaust:

Nasse Füße

Da wir Seitensprünge lieben biegen wir bei Puerto Tranquilo erneut von der Carretera auf eine Schotterpiste ab, die knapp 80 Kilometer nach Westen zur Bahia Exploradores führt. Die Route führt am nördlichen Rand des patagonischen Eisfeldes entlang, geschützt durch das 4.000 Meter hohe Massiv des Monte Valentin, durch das enge Valle Exploradores, welches erst 1930 von dem deutschen Forscher August Grosse entdeckt wurde. Die Fahrt durch das Tal ist eines der schönsten und beeindruckendsten Erlebnisse unserer Reise.

Das pazifisch-feuchte Klima lässt den Wald hier wuchern, das Dickicht aus Farnen, Nalca und Schlingpflanzen ist undurchdringlich, an den Steilhängen stürzen Wasserfälle Hunderte Meter hinab und der grün schimmernde Rio Bayo windet sich dicht entlang der Straße.

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Hoch über der Straße hängen die Zungen blau-weiß schimmernde Gletscher des Eisfeldes über, der größte von ihnen ist der Grosse-Gletscher, der sich als gigantische Schlange vom Eisschild herabschiebt.

Wo das Tal offener wird ist die Piste von dicken Büschen gelb blühender Lupinen gesäumt. Die Piste ist zum überwiegenden Teil aus Kies aufgeschoben, teilweise bis weit über einen Meter hoch, und ihre Seiten sind unbefestigt. Hier abzurutschen hätte üble Folgen.

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Dann endet sie nach knapp 80 Kilometern abrupt am Rio Exploradores. Eine Brücke auf die andere Seite ist seit Jahren in Planung, um einen direkten Zugang zur Bahia Exploradores zu schaffen, aber wann sie gebaut wird steht nicht fest. Vom vorläufigen Endpunkt aus kann man – vorausgesetzt, daß Wetter ist gut – mit kleinen Booten einen zwölf bis vierzehn Stunden dauernden und über den Estero Elefantes führenden Ausflug zum San Rafael Gletscher westlich des Eisschildes machen. Genau das ist unser Plan, aber das Wetter spielt nicht mit. Es ist viel zu windig, um mit einem Schlauchboot rauszufahren, und der Himmel ist eine geschlossene graue Wolkendecke, also müssen wir den Plan kippen. Allzu enttäuscht sind wir nicht: Es gibt in Patagonien ja zum Glück noch reichlich andere große Gletscher.

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Wir finden einen einsamen Nachtplatz auf einem Kiesbett des Rio Bayo. Über Nacht werden die Wolken zu schwer und laden ihre nasse Last ab; Regentropfen trommeln ihr Stakkato ohne Unterlaß laut auf unser Dach. Es kommt wie es kommen muß. Als wir am nächsten Morgen aus dem Fenster schauen staunen wir nicht schlecht: Wir stehen auf einer Insel und der Unimog mit den Füßen bereits im Wasser. Da es noch immer wie aus Kübeln gießt parken wir schleunigst den Wagen auf höheres Gelände am Ufer und widmen uns erst dann dem Frühstück. Zwei Stunden später ist die Kiesbank ganz verschwunden. Der Rio Bayo hat seine Größe mehr als verdoppelt und auch seine Fließgeschwindigkeit hat deutlich zugenommen. Der oft schon gelesene Satz „Der Fluß hatte sich über Nacht in einen reißenden Strom verwandelt“, hat hier für uns eine sehr konkrete Bedeutung erhalten.

Über Nacht sind Hunderte neuer Kaskaden hinzugekommen, die ihre rauschenden Wassermassen die Felsen hinab jetzt bis auf die Piste ergiessen, so daß unser Wagen ab und an unfreiwillig eine eiskalte Dusche erhält.

Die Piste selbst hat sich in braunen schmierigen Matsch verwandelt und die Fahrt kommt einer Schlammschlacht gleich. An den Seiten der Piste steht dort, wo gestern noch Wiesen waren, jetzt hoch das Wasser und die Piste liegt nur noch ein kleines Stück höher.

Kurz bevor wir wieder Puerto Tranquilo am Westufer des Lago General Carrera erreichen sehen wir einen typischen patagonischen Friedhof. Hier baut man den Verabschiedeten kleine Häuser mit Haustür und Fenstern aus Glas, die häufig sogar mit Gardinen ausgestattet werden.

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Hier am Westufer des Sees liegen die Capillas de Mármol, bizarre Felsformationen in Ufernähe, die mit kleinen Booten besichtigt werden können, aber wir verschieben die Tour auf den Rückweg, denn ein Blick in den Himmel verheißt nichts Gutes.

Entlang des Lago General Carrera

Wir folgen über die asphaltierte Straße dem Lauf des Rio Simpson, einem der schönsten Flüsse der Region, wie wir finden. Er schlängelt sich durch schmale Canyons, ist an den Ufern dicht mit Blumen bewachsen und sein Wasser springt schäumend über kleine Stromschnellen. Wir fahren durch Wälder, entlang sumpfiger Lagunen und durch Moorlandschaften, dann windet sich der Paß Portezuelo Ibanez in engen Serpentinen bis auf 1.100 Meter Höhe. Das Panorama ist atemberaubend und die schroff gezackten Gipfel des Bergmassivs Cerro Castillo, welches ein weites Tal umschließt, begleiten uns für eine ganze Weile.

Dann verlassen wir die Carretera Austral, um einen Abstecher nach Puerto Ibanez am Nordufer des Lago General Carrera zu machen. Der blaugrüne See leuchtet uns unter wolkenlosem Himmel schon von Weitem entgegen. Kein Diamant der Welt könnte schöner funkeln. Er ist der größte See Chiles und nach dem Titicacasee der zweitgrößte See Südamerikas. Der östliche, kleinere Teil gehört zu Argentinien, liegt bereits im noch bewaldeten Flachland, welches dann kurz darauf in die aride Pampa übergeht, und ist ein bevorzugtes Anbaugebiet von Kirschen. Allein der von West nach Ost verlaufende Hauptarm des Sees hat eine Länge von 180 Kilometern. Das Mikroklima hier ist im Vergleich zum restlichen Patagonien deutlich sonniger und trockener, da die Region durch das nordpatagonische Eisfeld und die bis über 4.000 Meter hohen Gipfel des Monte San Valentin und Cerro Nyades im Westen von den kalten pazifischen Winden und Regenfronten abgeschirmt wird.

Wir entscheiden uns, für den Rückweg zur Carretera Austral eine Piste zu nehmen, die durch ein sehr abgeschiedenes Tal führt. Puerto Ibanez werden wir wiedersehen, denn auf unserer Rückkehr aus dem tiefen Süden werden wir von Chile Chico aus mit der Fähre hierher übersetzen.

Wir fahren knapp sechzig Kilometer durch ein Tal, das einsamer und verwunschener nicht sein könnte. Vergessen vom Rest der Welt wurden hier bis heute nicht einmal Strom- oder Telefonleitungen verlegt und die wenigen kleinen Farmen bedienen sich alter Generatoren, die Fortschrittlicheren haben ein paar Solarzellen vor dem Haus oder neben der Scheune aufgestellt. Die Fenster der oft schiefen, über viele Jahrzehnte verwitterten Holzhäuschen sind mit weißen Spitzengardinen geschmückt. Auf dem Gelände stehen mit Schutzfolie überzogene Treibhäuser oder Gewächshäuser aus Glas. So wie es ausschaut, leben hier Farmer, die ausschließlich für die Selbstversorgung anbauen. Wir passieren die wunderschönen Wasserfälle des Rio Ibanez, treffen in einem Wald auf ein paar Wildpferde, kommen an einsamen kleinen Seen vorbei.

Da die Piste ist in schlechtem Zustand ist läßt Hugo Luft aus den Reifen, um das stundenlange Fahren etwas komfortabler zu machen..

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Niemand begegnet uns, niemand folgt uns, bis wir Stunden später wieder die Carretera erreichen, die kurz darauf von Asphalt zu Schotter wechselt. Die Landschaft ändert sich augenfällig. 1991 brach der nordwestlich gelegene Vulkan Hudson aus und ließ auf weite Teile der Region tagelang Asche regnen. Infolgedessen starben viele Wälder ab und bis heute ragen die toten Stämme aus grauen Hängen gespenstisch in den Himmel.

Am späten Nachmittag finden wir einen Stellplatz, der schöner nicht liegen könnte:

Huemules

Wir haben großes Glück, als wir auf unserer Weiterfahrt an einem Bachlauf zwei der vom Aussterben bedrohten Huemules, der großen Andenhirsche, entdecken:

Castor und Pollux

Genau, die Namen kennt jeder. Aber wer waren die Beiden doch gleich? Die von der Wölfin gesäugten Gründer Roms? Das waren Romulus und Remus. Die beiden Dobermänner von Higgins und Magnum? Auch nicht, die hießen Zeus und Apollo, wenn ich mich recht erinnere.

Wir statten Castor und Pollux jedenfalls spontan einen Besuch ab und fahren zu den beiden gleichnamigen abgeschiedenen Bergseen kurz vor dem argentinischen Grenzverlauf. Die Landschaft ist sanft hügelig und erinnert mit ihren Gruppen von hohen Pappeln ein wenig an Oberitalien. In der Ferne sind die weißen Gipfel der höheren Berge zu sehen. Die wenigen Schaffarmen, die verstreut in den Hügel liegen, sind aus verwittertem Holz, windschief und scheinen uralt zu sein.

Still und geheimnisvoll liegen die beiden Seen inmitten grüner Wiesen und Wälder. Die Sonne scheint, die Luft ist mild und die Stille wohltuend. Hugo nutzt die guten Konditionen für einen kurzen Flug mit dem Gleitschirm und sieht auf dem Rückweg zum Wagen ein schwarz-weißes Stinktier. Abends verfärbt sich der Himmel in allen Nuancen von orange bis violett.

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Coyhaique

Für einen Moment drehen wir die Zeit zurück – im Blog können wir das 🙂 – und sind wieder in der Zeit kurz vor Weihnachten. Das Internet hier in Patagonien ist, wenn überhaupt verfügbar, anorexisch. Die chilenische Regierung hat auf den Plazas in den abgelegenen Ortschaften zwar kostenlose Hotspots eingerichtet, aber jedes Bit wird einzeln durchgeschoben und nach maximal einer halben Stunde fliegt man automatisch aus dem Netz. Wir kommen deshalb mit dem Bloggen nicht nach.

Wir sind in Coyhaique angekommen, dem „Land zwischen den Wassern“. Hier fließen der Rio Simpson und der Rio Coyhaique zusammen und die indianischen Ureinwohner nannten das Land entsprechend „Koi-Aike“. Die Stadt ist die Hauptstadt der Region Aysén, der mit 0,9 Einwohnern pro Quadratkilometer am dünnsten besiedeltsten Region Chiles. Die Region Aysén verfügt laut Volkszählung 2012 insgesamt über 108.494 Einwohner, wovon etwas über 50.000, also knapp die Hälfte, in Coyhaique leben. Weitere 30.000 leben in der Stadt Puerto Aysén. Zieht man diese von der Gesamtzahl mal ab, dann bekommt man eine ungefähre Vorstellung davon, wie dünn der Rest der Region Aysén, die immerhin einen Flächenanteil von 14,3% an Chile hat, besiedelt ist. Zum Vergleich: Die Hauptstadtregion Santiago de Chile hat einen Flächenanteil von 2% und eine Bevölkerungsdichte von 434 Einwohnern pro Quadratkilometer. Deutschland hat eine Bevölkerungsdichte von 226,9 Einwohnern pro Quadratkilometer und liegt damit weltweit auf Platz 17, Chile auf Platz 67. Auf den Plätzen 1 bis 3 liegen übrigens Monaco, Singapore und Hongkong.

Wir schauen im Ort zunächst bei Mercedes Kaufmann vorbei. Unsere Ersatzteile aus Deutschland für die Heizung sind noch nicht eingetroffen, sondern liegen vermutlich noch irgendwo beim Zoll, aber wir müssen auch am linken Vorderrad die Dichtung für das Portalgetriebe austauschen lassen, da dieses Öl leckt. Die Werkstatt ist zwar etwas kleiner als die bisherigen, die wir im Laufe der Reise aufgesucht haben, aber der Kaufmann-Service ist wie gewohnt außerordentlich gut.

Auch wenn Coyhaique das wirtschaftliche Zentrum der gesamten südlichen Carretera Austral ist, so vermittelt der Ort einen beschaulichen, eher dörflichen Eindruck. Es gibt einige bescheidene Geschäfte und Restaurants, ein Kino und eine schöne, mit großen Bäumen bestandene fünfeckige Plaza im Zentrum. Als wir samstags dort auf einer Bank sitzen versammeln sich plötzlich Hunderte Menschen im Halbkreis um eine Bühne, wo sich schon ein kleines Orchester in festlicher Kleidung zusammengefunden hat. Wir denken zunächst, es ist eine vorweihnachtliche Aufführung, vielleicht von einer Schule. Weit gefehlt: Eine Wanderpredigerin der Methodisten-Pfingstkirche in leuchtend pinkfarbenem und reich besticktem Gewand tritt auf. Mit schöner, alles durchdringender Stimme schmettert sie, von Chor und Orchester begleitet, gute zwei Stunden lang ihre Weisheiten in Form von Liedern und Predigten in die Runde. Die Show – eine Mischung aus blumigsten Verheißungen des Paradieses und blutrünstigsten Androhungen von Fegefeuer und Hölle untermalt mit melodischen lateinamerikanischen Rhythmen – stimmt; die Menge lauscht gebannt, klatscht, singt mit, jubelt ihr zu, macht Fotos und Filme mit dem Handy.

Nachdem wir das übliche Pflichtprogramm erledigt und einen Supermarkt, Geldautomat und eine Wäscherei angesteuert haben, fahren wir in den mit Südbuchen und Kiefern bewachsenen Nationalpark Coyhaique, und übernachten an der Laguna Verde, einem kleinen See, den man in einer Dreiviertelstunde umlaufen kann.

Weihnachtsgrüße

Wir sind inzwischen in Cochrane angekommen und einige Reiseberichte der letzten Tage fehlen noch, aber wir schieben unsere Weihnachtsgrüße an Euch und zuhause an dieser Stelle ein, da dieser Ort vermutlich der letzte „Posten“ in der Wildnis ist, der zumindest notdürftig über Wi-Fi verfügt. Je weiter südlich wir reisen desto anorexischer werden Internet- und Handyverbindungen. Oft sind wir tagelang von allem vollständig abgeschnitten und vermutlich werden wir erst nach den Festtagen wieder ein Netz haben.

In den vergangenen Wochen wurden wir öfters von Freunden und Familie gefragt, wo wir denn eigentlich die Weihnachtstage verbringen. Gute Frage. Unsere Antwort lautete bisher immer: „Das wüssten wir auch gerne!“ Langsam zeichnet sich ab, daß wir Heiligabend voraussichtlich am Ende der Carretera Austral in Villa O´Higgins verbringen werden, dort, wo sich die Straße in der patagonischen Pampa verliert, wo es selbst mit dem Unimog nicht mehr weiter geht. Bis dorthin sind es noch rund 200 Kilometer. Von dort kehren wir dann um, um in Coyhaique unsere Ersatzteile für die Heizung abzuholen und dann geht es quer durch die Anden über die Grenze nach Argentinien mit dem Ziel Ushuaia.

So schön unsere Reise auch ist, für uns ist es nicht ganz leicht, die Weihnachtsfeiertage nicht zuhause sondern weit entfernt zu verbringen. Wir vermissen unsere Familien, insbesondere unsere Kinder, sehr. Nach einem Erlebnis vor vielen Jahren hatte ich mir vorgenommen, nie wieder Weihnachten im Ausland zu verbringen. In 1990 reiste ich im Dezember mehrere Wochen durch Kalifornien und verbrachte die Weihnachtszeit in San Diego, eigentlich einer wunderschönen Stadt ganz im Süden, mit einem herrlich sonnigen Klima. Von weihnachtlicher Stimmung war jedoch nichts zu spüren, im Gegenteil, die gesamte Stadt wirkte bedrückt und bedrückend. Nicht ohne Grund, denn die USA rüsteten zu diesem Zeitpunkt massiv für die Operation „Desert Storm“. Im Hafen von San Diego lagen viele Fregatten und andere große, graue Kriegsschiffe und warteten auf den Befehl zum Auslaufen. Die Szenen waren herzzerreißend. Mütter und Väter verabschiedeten sich von ihren Söhnen und Töchtern, junge Frauen mit Kleinkindern an der Hand oder Babies auf dem Arm von ihren Männern und es gab auch zahlreiche Männer mit kleinen Kindern, die ihre Frauen verabschieden mußten. Ich war umgeben von einem Meer aus Tränen, Hilflosigkeit und Verzweiflung. Für viele Amerikaner wurde hier aus einem „Job“ plötzlich ein lebensbedrohlicher Einsatz. Von weitem war zu beobachten, wie Panzer und militärische Fahrzeuge durch das hochgeklappte Heck in die bereit stehenden riesigen Super Guppies fuhren, die dann kurze Zeit später zur Offensive gegen den Irak starteten, um das von Hussein annektierte Kuweit zu befreien. Die bedrückende Atmosphäre ließ niemanden vor Ort unberührt.

Ich war in einem dieser typischen amerikanischen Hotels untergebracht, die noch nicht einmal über ein Restaurant verfügen. Da über Weihnachten in San Diego alles, aber auch wirklich alles geschlossen hatte und ich nicht ein einziges geöffnetes Restaurant finden konnte, bestand mein Weihnachtsessen aus einer Tüte Chips und einer Cola von der Tanke. Irgendwann war dann alles zu viel. Ich kann mich gut daran erinnern, daß ich den Weihnachtsabend im Hotelzimmer auf der Bettkante verbracht und wie ein Schloßhund nonstop geheult habe. Seitdem verbringe ich jedes Weihnachtsfest im Kreis der Familie und mit dem schon legendären Riesentruthahn aus dem Ofen. Und das ist gut und richtig so.

Nicht so in diesem Jahr, und es fällt uns beiden schwer, Hugo genauso wie mir. Wie werden wir Heiligabend verbringen? Vielleicht zünden wir ein Lagerfeuer an, vorausgesetzt, der ewige eiskalte patagonische Wind zeigt sich gnädig und lässt für eine Weile etwas nach. Vielleicht machen wir uns aus einem chilenischen Malbec einen Glühwein? Wer weiß … wir werden es Euch wissen lassen. Sicher ist, wir werden in Gedanken bei Euch sein. In diesem Sinne

Weihnachtsgrüße

 

Wir sehen lila

Nachdem wir den kurvigen, aber nur fünfhundert Meter hohen Queulat-Paß hinter uns gelassen haben verabschieden wir uns wieder vorübergehend von der Carretera und steuern Puerto Cisnes an, einen beschaulichen, sehr authentischen kleinen Ort mit einem schönen halbmondförmigen Naturhafen. Hier legen auch einige kleine Fähren zu den vorgelagerten Inseln ab und wir spekulieren auf eine spontane Überfahrt bis Puerto Chacabuco. Vielleicht haben wir Glück und am nächsten oder übernächsten Tag fährt ein Schiff. Das lokale kleine Büro der Reederei hat laut Tafel täglich von 9.00 bis 13.00 Uhr geöffnet, aber während dieser Zeit zeigt sich dort niemand. Am nächsten Morgen ist das Büro allerdings schon um 8.00 Uhr besetzt und wir erkundigen uns nach Möglichkeiten einer Überfahrt. Leider wird die Strecke nur einmal wöchentlich, am Freitag, befahren, was für uns eine Wartezeit von vier Tagen hieße.

Das ist uns zu lang, also setzen wir nach zwei Nächten am Strand von Puerto Cisnes unsere Fahrt nach Puerto Aysen und Puerto Chacabuco fort. Besonders Puerto Aysen gefällt uns gut; die Stadt mit ihren rund 30.000 Einwohnern strahlt noch heute etwas vom Pioniergeist früherer Tage aus und ist sehr entspannt. Die Region hier rund um die „“Hauptstadt“ Coyhaique ist dichter besiedelt als das übrige Patagonien und die Carretera, sonst überwiegend eine wenig komfortable Schotterpiste, ist hier sogar ein Stück asphaltiert.

Der Himmel ist über Nacht vollständig aufgeklart und Patagonien zeigt sich von seiner schönsten Seite. Die Sonne strahlt heiß von einem wolkenlosen Himmel. Die auch so schon herrliche grüne Landschaft schaut aus, als hätten die Götter im Rausch der Farben hemmungslos lila Granaten auf die Erde geworfen und explodieren lassen.

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Entlang der Straße und in den Kiesbetten der türkis-blauen Flüsse blühen dicht an dicht Abertausende lila Lupinen, die noch dazu einen intensiven Duft verströmen. Die leuchtende Farbe ist ein wunderbarer Kontrast zu den schneebedeckten Gipfeln der Berge im Hintergrund, dem Grün der Wiesen, dem Türkis der Flüsse und dem Blau des Himmels. Wir können uns gar nicht satt sehen an dieser Blütenpracht.

Spätnachmittags fahren wir über eine letzte Anhöhe, dann liegt das Städtchen Coyhaique in einem weiten Tal vor uns, umgeben von grünen Wiesen und malerisch zu Füßen des imposanten Tafelberges Cerro Mackay.

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Ventisquero Gletscher

Von der Küste geht es die gleiche Strecke – es gibt nur diese eine Schotterpiste durch den Urwald – vorbei an den kleinen Schaf- und Rinderfarmen zurück nach La Junta, wo wir im Dorfladen unseren Proviant aufstocken. Gemüse und frisches Obst sind Mangelware; wenn nicht gerade der wöchentliche oder monatliche LKW aus Puerto Montt eine frische Ladung gebracht hat, ist außer Zwiebeln nicht viel zu bekommen. Stattdessen führt der kleine Laden mindestens dreißig verschiedene Putzmittel für den Haushalt.

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Julian und Markus wollen den Rio Figueroa gerne noch paddelnd bezwingen, also verbringen wir noch eine Nacht am bereits bekannten Wiesenstellplatz am Flussufer des Rio Palena und fahren am nächsten Morgen kurzerhand Richtung argentinische Grenze bis nach Lago Verde. Nach einer Nacht am jadegrünen See trennen sich unsere Wege; vielleicht sammeln wir die beiden sportlichen Rafter weiter im Süden ja noch einmal ein :-).

@Markus und Julian: War schön mit Euch!

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Wir setzen unsere Fahrt fort und erreichen mit Puerto Puyuhuapi ein malerisches Siedlerdorf am nördlichen Ende des Ventisquero-Fjordes, der weit ins Land hinein ragt. Heimelige, mit Holz verkleidete und gut gepflegte Häuschen säumen das Ufer. Der Ort ist vergleichsweise jung; er wurde von vier Sudentendeutschen erst 1935 gegründet. Zu ihnen zählte Walter Hopperdietzel, der hier in Puyuhuapi die erste Teppichmanufaktur gründete, die noch heute Teppiche webt. Die kleinen Cafes und Hotels im Ort tragen häufig einen deutschen Namen wie zum Beispiel Casa Ludwig oder Cafe Rossbach.

Südlich von Puyuhuapi führt die Carretera Austral durch den Parque Nacional Queulat, einen Urwald mit hohen Bäumen, Bambus, Scheinbuchen, rotblühenden Fuchsiengewächsen, Lianen, Farnen und Nalca-Pflanzen, dem wilden Rhabarber Patagoniens. Vom Parkeingang aus führt eine 3,5 Kilometer lange Wanderung bis zu einem Aussichtspunkt, der den Blick auf den Ventisquero Colgante, den hängenden Gletscher freigibt. Der Himmel ist mit dicken grauen Wolken verhangen, aber wir beschließen, trotzdem loszumarschieren. Es geht durch einen Zauberwald mit von dichten Moosen und Flechten besetzten Bäumen, über gewaltige Felsbrocken, vorbei an Riesenfarnen und jungen Trieben, die sich im Schatten der Urwaldriesen gerade erst ausrollen.

Am Tag zuvor hat es geregnet und der Pfad steht zu einem großen Teil unter Wasser; manchmal stehen wir knöcheltief im dicken Matsch und bei jedem Schritt geben die Trekkingschuhe ein schmatzendes Geräusch von sich. Winzige grün-braun schimmernde Kolibris fliegen vorbei und verharren flügelschlagend und Nektar trinkend vor den rot leuchtenden Blüten einer Pflanze, die selbst eher wie ein Tier ausschaut.

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Der Aufstieg ist rutschig und anstrengend und wir benötigen für die 3,5 Kilometer knapp zwei Stunden, bis wir den Aussichtspunkt gegenüber dem Gletscher erreicht haben. Wir haben Glück: Die Wolken verziehen sich für einen Moment und geben die Sicht auf den gewaltigen blau-weißen Überhang aus Eis frei, der zwischen den Felsen talwärts zu stürzen droht, aber lediglich ein Schwall aus Schmelzwasser ergießt sich in den tief in der Schlucht verlaufenden Fluß. Während des Tages hatte ich wie immer einige Bilder geschossen, aber ein paar Tage später muß ich feststellen, daß mir die Fotogötter einen Streich gespielt haben: Die SD-Card ist defekt; die Fotos von unserer Wanderung sowie den Tagen danach sind darauf, aber ich komme – zumindest für den Moment – nicht mehr daran :-(.

Verpaddelt

Der Verwalter des privaten Naturreservates kann uns leider auch keine Querfeldein-Abkürzung vom Valle California nach La Junta nennen. In der Region ist zwar die Rede von einer Straße durch den Urwald, die im Rahmen eines Förderprogrammes gebaut werden soll, aber wann und wie der aktuelle Stand des Vorhabens ist weiß hier niemand. Solange die Straße nicht existiert interessiert sie hier auch niemanden. Wenn die Strecke dann irgendwann befahrbar ist wird die Nachricht allerdings wie die olympische Fackel in Windeseile von Dorf zu Dorf wandern. Wir fahren also ein Stück zurück, biegen wieder auf die Carretera Austral nach Süden ab und beschließen in La Junta, die rund siebzig Kilometer lange Schotterpiste bis ans Meer nach Puerto Raul Marin Balmaceda zu fahren. Die Fahrt wird uns durch das lange Tal des Rio Palena führen und da es schon spät ist schlagen wir unser Nachtlager auf einer idyllisch gelegenen Wiese am Flußufer auf. Niemand ist zu sehen oder zu hören und die Nacht ist still bis auf das gleichmäßige Gurgeln des Wassers im Hintergrund.

Wir wähnen uns schon als Adam und Eva im Paradies, als am nächsten Morgen kurz nach dem Frühstück hinter uns aus dem Nichts plötzlich Stimmen laut werden: „Do you speak English?“ Seit wann können Flüsse sprechen? Und dann: „Ohhhh, you speak German?!!!!!“ Vom Flussbett kommen Julian und Markus angestapft und setzen uns mit wenigen Worten ins Bild: Sie haben sich schlichtweg verpaddelt, wollten eigentlich mit ihrem kleinen Otter-Raftingboot viel weiter östlich in den Rio Rosselot abbiegen und haben den Flussarm um schlappe siebzehn Kilometer verpasst. Das hört sich erstmal wenig an, aber bei der starken Strömung des Rio Palena ist es unmöglich, die Strecke zurück zu paddeln. In der Einsamkeit gestrandet kann man hier auch nicht darauf hoffen, daß in absehbarer Zeit ein Auto vorkommt, das einen zum Wunschort befördern kann. Das Warten kann hier auch mal Tage dauern.

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Die beiden Jungs gestehen, daß sie hungrig wie Wölfe sind, denn an Bord sind zu allem Unglück auch noch die Nahrungsmittel ausgegangen. Nachdem wir die beiden mit Brot und Salami abgefüttert haben erfahren wir mehr. Beide sind Mitte zwanzig, kommen aus dem Schwabenländle, haben gerade ihr Studium beendet und bereisen jetzt mit ihrem kleinen Boot, zwei Paddeln, Neoprenanzug, Zelt, Minimalgepäck und Satellitentelefon für einige Monate die Flüsse Chiles, Ecuadors und Brasiliens, bevor es zum Abschluß zum „Chillen“ nach Panama geht. Wir finden, daß das eine ganz tolle Art zu reisen und eine außergewöhnliche Perspektive ist, sich ein Land anzuschauen. Es muß sehr schön sein, über die türkisfarbenen Flüsse zu paddeln, über schäumende Stromschnellen durch den Urwald zu jagen, vorbei an blühenden Wiesen, durch enge Schluchten mit großen Granitblöcken, vom Boot aus Lachse oder Forellen zu angeln und abends bei einem Lagerfeuer auf einer Kiesbank mitten im Fluß zu campieren. Mit der Romantik ist es allerdings vorbei, wenn eine typisch patagonische Schlechtwetterfront mit Regen und horizonal stürmendem Wind hereinzieht. Dann kann es sein, daß man Tage im Zelt verbringen muß, die Klamotten und der Schlafsack sind irgendwann klamm und die Moral am Boden.

Markus und Julian sind flexibel, wir adoptieren sie kurzerhand für paar Tage, die Otter wird zum Drachen & Co aufs Dach geschnallt und zu Viert fahren wir weiter. Je näher wir dem Meer kommen desto ursprünglicher und unbewirtschafteter wird die Landschaft. Dann endet die Piste an einem kleinen Anleger aus Beton und wir überqueren auf einer winzigen Fähre den Rio Palena, bevor es auf der anderen Seite des hier breiten, aber gemächlich dahinfließenden Flusses weitergeht.

Das kleine Dorf Puerto Raul Marin Balmaceda ist umgeben von dichtem Naturwald und besteht aus nicht mehr als einer Handvoll Häuser. Hier leben zumeist Fischer. Mit dem Unimog bahnen wir uns einen Weg durch dichten, leuchtend gelb blühenden Ginster, bis wir die Dünen und den weißen Sandstrand erreichen.

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Dort, wo der Rio Palena ins Meer mündet, schlagen wir unser Camp auf. Hugo lässt sich von den Jungs noch eine Runde wie Graf Koks über den Fluß paddeln, dann wird sich der genetisch zutiefst verankerten männlichen Aufgabe des Feuermachens gewidmet.

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Das gesammelte Treibholz brennt gut, bald lodern die Flammen und wir genießen die Zeit, bis die Sonne hinter den Bergen verschwunden ist.

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In der Nacht fällt Regen, aber am nächsten Morgen kommt die Sonne wieder durch und schon bald ist der Himmel klar. Beim Frühstück ziehen gemächlich einige dunkle Delphine mit hellem Bauch in zehn, fünfzehn Meter Abstand flussaufwärts an uns vorbei. Später, am Strand gleich um die Ecke, sehen wir sie wieder und beobachten sie beim Jagen nach Fischen. In den großen, mit Strandhafer bedeckten Dünen wachsen Tausende wilder Erdbeeren, die um diese Jahreszeit weiße Blüten tragen. Ich hüpfe wie Rumpelstilzchen umher, um keines dieser Pflänzchen zu zertreten. In ein paar Wochen wird aus jeder Blüte eine dieser herrlich geschmacksintensiven, süßen kleinen Früchte gereift sein, aber dann sind wir leider schon nicht mehr da.

Am weitläufigen Sandstrand ist außer uns kein Mensch zu sehen, außer der Brandung des Pazifiks und vereinzelten Vogelrufen ist kein Laut zu hören. Hinter den gelben Ginsterbüschen zeichnen sich entfernt am Horizont die schneebedeckten Gipfel der Anden vor dem strahlend blauen Himmel scharf ab. Die Zeit perlt dahin. Keine Menschen, keine Autos, keine Züge. Kein Flugzeug, das den patagonischen Himmel zerschneidet. Kein Fernsehen, kein Radio, kein Telefon, kein Wi-Fi. Kein facebook, kein Whats App, kein Linked-in, keine Nachrichten. Keine Termine, keine Eile, keine Hektik, kein Stress. Einfach nur Stille und natürliche Schönheit. Man möchte in diesem Moment verweilen, ihn festhalten, einfach nur da sein. Da. Sein.

Wir würden am liebsten hier bleiben; es ist zum HERZDRÜCKEN schön.

Entlang des Rio Futaleufú

Im kleinen Markt Puma Verde, der zum Parque Pumalin gehört, machen wir noch einige Einkäufe und staunen nicht schlecht, als wir in den vergleichsweise gut sortierten Holzregalen neben frischem Gemüse abgepacktes deutsches Pumpernickel und Brot mit Sonnenblumenkernen entdecken! Der halbe Bestand wandert gleich in den Einkaufskorb, denn mit dem Brot ist das hier in Südamerika so eine Sache. Man kennt kein Vollkornmehl und dementsprechend schmeckt alles Brot schlicht nach nichts. Ein Brötchen von der Größe einer Grapefruit kann man in der Faust widerstandslos auf die eines Zwei-Euro-Stücks zusammendrücken und für den Rest seines Brötchenlebens bleibt es dann auch so. Ein Regencape im Format eines Zirkuszeltes wird im mercado ebenfalls eingepackt und dann geht es weiter in südlicher Richtung.

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Unsere Ziele sind Futaleufú und Palena, die östlich der Carretera in Richtung der argentinischen Grenze liegen. Wer nur die Carretera im Eiltempo hinunter- oder hinaufhuscht sieht zwar auch schon eine Menge, aber die wirklichen Naturschönheiten in den verschwiegenen Tälern bleiben ihm verborgen. Wir haben Zeit und lassen sie uns, denn unsere Ersatzteile für die Heizung sind noch unterwegs nach Coyhaique.

Die rund achtzig Kilometer lange Strecke windet sich als Piste durch ein langes Tal und führt uns am stillen Gletschersee Lago Yelcho vorbei, der sich zu Füßen einer dicht bewaldeten Bergkette über 35 km erstreckt, und dann entlang des malerischen, blau-grün schimmernden Rio Futaleufú, der mit seiner Vielzahl an wild schäumenden Stromschnellen ein Rafting-Paradies ist.

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Einige Klein- und Kleinstfarmen mit Gebäuden aus Holz, die seit vielen Generationen nicht verändert wurden bewirtschaften das vor langer Zeit gerodete Land. Verkohlte Reste großer Baumstümpfe liegen verstreut auf den mit gelben Butterblumen übersäten Wiesen. Vor den kleinen Fenstern hängen Spitzengardinen.

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Die Zäune dienen hier lediglich der Dokumentation von Eigentum, nicht dem Schutz der Nutztiere. Rinder mit ihren Kälbern, Ziegenherden, Hühner, Pferde und jede Menge Schafe halten sich genauso oft vor dem Zaun wie dahinter auf und liegen auch gerne mal quer auf der Piste. Wenn wir mit dem Unimog ganz vorsichtig im Schneckentempo angebrummt kommen sind die Reaktionen unterschiedlich:

– Schafe, eben noch die schwarzen Köpfe schafsnasig und mit höchster Konzentration fressend im hohen Gras versenkt, galoppieren beim allerersten Geräusch des Mogs mit wippenden Lämmerschwänzen wie angestochen los, soweit weg von uns wie möglich, und bleiben erst stehen, wenn die Zunge aus dem Hals hängt. Eine erfolgreiche Fluchtstrategie, denn beim Fotografieren erwische ich von Weitem meist nur noch den wollenen Hintern.

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– Pferde, besonders die jüngeren Tiere, werden nervös bis hysterisch, zappeln rum, steigen mit den Vorderbeinen, rollen wild mit den Augen, legen die Ohren an, wissen nicht, ob sie besser vorwärts oder rückwärts ausbrechen. Bis sie sich entschieden haben sind wir vorbei und alles ist gut. Keine gute Strategie, finden wir, denn wenn wir vorbei sind, sind meist nicht nur die Pferde fix und foxi, sondern ich auch. Ein PS mehr würde dem Mog zwar nicht schaden, aber bitte unter der Motorhaube und nicht darauf.

– Rinder, egal ob Bulle oder Kuh, nehmen uns nicht wirklich ernst, was dem Selbstbewusstsein des Moppels sehr zusetzt. Ausgewachsene Tiere sind von Natur aus phlegmatisch, aber hier scheinen sie zusätzlich Tranquilizer im Gras zu haben. Sie schauen uns entsetzlich gelangweilt und gleichzeitig beleidigt an und bequemen sich erst dann schwerfällig im Zeitlupentempo aus ihrer Liegendposition, wenn wir bereits vorbei oder um sie herum gefahren sind. Fliegende Kühe, wie wir sie auf Indiens Autobahnen erlebt haben, die sogar Leitplanken aus dem Stand überspringen können. gibt es hier nicht. Kleine Kälber verhalten sich allerdings ganz anders; sie rennen völlig kopflos in ihrer Panik schlichtweg alles über den Haufen, vorzugsweise andere Kälber oder ihre am Boden und im Weg liegenden Mütter.

Neben dem enormen Dieselverbrauch ist die Dezibelzahl des Unimogs der einzige weitere Kritikpunkt, den man eventuell haben könnte. Hier im einsamen stillen Patagonien rechnen wir fest damit, irgendwann von Mutter Natur wegen Ruhestörung eine Strafanzeige zu erhalten. Dann kommt noch das mysteriöse Sirenenphänomen dazu: In Städten und auf Straßen mit vielen parkenden Autos auf den Seitenstreifen löst das Brummen des Mogs leider sehr häufig die Alarmanlagen aus, die der Reihe nach losgehen, wenn wir vorbei fahren. Sehr seltsam…Wie dem auch sein, wir können es nicht ändern und irgendwie ist es ja auch lustig.

Unseren Stellplatz für die Nacht finden wir im Kiesbett am Rio Futaleufú, umgeben von Lupinen.

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An der Strecke liegt kurz vor Futaleufú der der Lago Lonconao, wo dann durchaus auch mal eine solche Villa im Blockhausstil zu sehen ist, Llamas als Haustiere im Garten inklusive.

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Viele der Flüsse werden von Gletschern gespeist und ihr Wasser schimmert in einem milchig-grünen Weiß. Wir drehen eine kleine Runde in dem idyllischen 2000-Seelen-Dorf Futaleufú und fahren dann in eine weiteres Tal, das Valle California ein gutes Stück hinter Palena. Hier erinnert die Landschaft mit etwas Phantasie an Südtirol und durch ein besonders mildes Mikroklima gedeihen hier sogar Zitrusfrüchte.

Wir finden einen abgeschiedenen Nachtplatz ein einem kleinen See mitten im Wald und genießen die wunderbare Abendstimmung und das Spiegelbild der Berge auf dem Wasser, als die Sonne untergeht.

Wege oder Pisten zurück zur Carretera gibt es nur einen, und den sind wir schon gekommen. Wir haben wenig Lust, die Strecke zweifach zufahren, könnten alternativ eine schlechte Piste über Argentinien nehmen, aber die zweifachen Grenzformalitäten haben wir noch weniger Lust. Vielleicht gibt es ja doch irgendeinen Weg, eine Abkürzung. Selbst wenn die Piste schlecht ist, mit Unimoppel sollte es kein Problem sein. Wir entdecken tatsächlich eine kleine Piste, die Richtung Süden führt, aber dann kommt ein locker verschlossenes Tor mit einem Schild „Recinto Privado“ undsoweiterundsofort. Also war´s das, umdrehen. Dann lese ich das Schild mal richtig und ja, handelt sich um Privatbesitz, aber „Betreten erlaubt!“ Wir brechen weiter durchs Gebüsch, bis wir plötzlich feststellen, daß uns ein Pick-up folgt. Also doch falsch verstanden? Nein, alles ist okay. Ein junger Chilene stellt sich als Verwalter des Parks vor und klärt uns auf: Es handelt sich um ein privates Naturreservat, welches von Chilenen und Ausländern vor nicht allzu langer Zeit gegründet wurde. Während der Sommermonate Dezember bis März soll das Reservat für Besucher offen stehen und eine kleine touristische Infrastruktur wie im Parque Pumalin ist im Entstehen. Wir schwatzen noch ein bisschen über Dies und Das und was prompt folgt ist eine Einladung zum Lunch.

Vom Fleece-Pulli zum eigenen Nationalpark

Chile hat eine große Zahl an Naturschutzzonen zu bieten: Insgesamt 36 Nationalparks, 49 Reservate und 15 Naturmonumente stehen unter dem Schutz der Forstbehörde Conaf. In Summe ergibt dies eine Fläche von 15 Millionen Hektar, was ungefähr 20% der gesamten Staatsfläche ausmacht. Bis Ende des zwanzigsten Jahrhunderts spielte Umweltschutz im Denken und Handeln der Chilenen keine nennenswerte Rolle. Im Gegenteil, der hemmungslose Raubbau fand völlig ohne Kontrolle oder Regulierung im gesamten Land statt. Die Fischbestände im Pazifik wurden mit industriellen Methoden abgefischt und nach Asien exportiert, Erze und Metalle aus den Minen der Atacama gegraben, die Rückstände des Bergbaus unkontrolliert in Flüsse, Seen und Böden geleitet. Ganze Wälder mit uralten Baumbeständen wurden niedergebrannt oder zu Holzchips verarbeitet und durch schnellwachsende Kiefern- und Eukalyptusplantagen ersetzt. Dem Profitdenken fielen leider auch viele prächtige, nur langsam wachsende Baumriesen zum Opfer, wie zum Beispiel die Alercen, die bis zu 3.000 Jahre alt und deren Stämme vier Meter dick wurden, oder die Araukarien, die ebenfalls ein biblisches Alter von 1.000 Jahren überschreiten konnten. Inzwischen ist der „grüne Gedanke“ auch in weiten Kreisen von Chile zunehmend populär geworden und bewegt Wirtschaft, Politik und die Breite der Bevölkerung zum Umdenken.

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Aber es gibt auch Institutionen und Privatpersonen im In- und Ausland, die sich für den Naturschutz nicht nur mit salbungsvollen Worten vor der Kamera in Pose bringen, um für positive Schlagzeilen zu sorgen, sondern die sich aktiv stark machen und auch finanziell engagieren, allen voran Douglas Tompkins und seine Frau. Mit Fleece-Pullovern legte der 1947 in New York geborene Unternehmer den Grundstein für sein Outdoor-Imperium „The North Face“, später war er Anteilseigner der Modefirma Esprit.

Einen Teil seiner Anteile verkaufte er 1990, gründete die Stiftung Deep Ecology mit Sitz in San Francisco und widmet sich seitdem ökologischen Initiativen. Nach und nach kaufte er in Chile – und später auch in Argentinien – große zusammenhängende Urwaldgebiete auf, was problemlos möglich ist, da die chilenischen Gesetze den Landerwerb durch Ausländer erlauben. Heute ist sein Landbesitz in Nordpatagonien 550.000 Hektar groß.

Kritiker und Widersacher fanden sich schnell und in Windeseile verbreiteten sich böse Gerüchte, daß er Festlandchile spalten und eine Art Enklave innerhalb des Landes schaffen wolle. Tompkins ließ sich nicht beirren, verfolgte konsequent sein Naturschutzprojekt und schuf den Parque Pumalin mit Modellcharakter für nachhaltigen Umweltschutz in Patagonien. Um weiteren Gerüchten und scharfen Attacken seiner Gegner für alle Zeit einen Riegel vorzuschieben gründete er eine Stiftung, die den Park heute schon verwaltet und später als Eigentümerin zu 100% übernehmen soll. Territoriale Ansprüche der wenigen Siedlerfamilien, die seit langer Zeit im Park lebten, hat Tompkins vollständig anerkannt, auch wenn keine Rechtstitel vorlagen. Heute zählt der Parque Pumalin zu den schönsten Naturparks Chile und hat Vorbildcharakter in puncto Infrastruktur und sozial-verträglichem Umweltschutz.

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Ganz klar, Tompkins als erfahrener Geschäftsmann hat sicherlich nicht nur aus altruistischen Beweggründen gehandelt. In den Shopping Malls der großen chilenischen Städte war uns aufgefallen, daß neben den eigenen chilenischen Modemarken auch – als eine von höchstens einer Handvoll ausländischer Marken – das vergleichsweise hochpreisige Sortiment von Esprit geführt wurde. Dito gilt für The North Face in den Outdoor-Geschäften. Mit seinem Invest hat er für seine Marken den Marktzugang gekauft. Na und? Wir finden, das ist nicht nur legitim, sondern ganz einfach clever.

Wir fahren auf der Carretera Austral, die den Park durchschneidet. Kaum ein Fahrzeug begegnet uns. Die einsame Schotterpiste ist von dichtem Regenwald umgeben und Riesefarne sowie die großblättrigen Nalca-Pflanzen, eine Rhabarberart, säumen den Weg und reichen vielerorts bis weit in die Piste hinein. Ab und an fällt etwas Regen und die Wolkenfetzen hängen tief in den grünen Bergen; wenn dann die Sonne wieder durchkommt dampft der Urwald und man kann schöne Regenbogen entdecken.

Alles Asche

Es ist früher Morgen, als wir mit der Don Baldo in Chaitén ankommen. Der Himmel auf dem Festland ist mit dicken grauen Wolken bedeckt, aber die weiße Rauchfahne des gleichnamigen Vulkans über dem Örtchen ist unübersehbar. Nonstop dampft und brodelt der Vulkan warnend vor sich hin.

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Am 2ten Mai 2008 bebte um 0.30 Uhr die Erde, dann folgte eine gewaltige Explosion. Die Einwohner von Chaitén ahnten nicht, daß dies den sprichwörtlichen Anfang vom Ende ihrer kleinen Stadt markierte. Sie nahmen an, daß der Vulkan Michinmahuida in 35 Kilometer Entfernung ausgebrochen war. Kurz darauf stellte sich jedoch mit Schrecken heraus, daß der Vulkan Chaitén, nur 1.100 Meter hoch und in nur zehn Kilometer Entfernung vom Dorf gelegen, entgegen aller Prognosen ausgebrochen war. Bewohner wie Vulkanologen waren von der Wucht des Ausbruchs gleichermaßen völlig überrascht, denn der Kegel galt als seit Jahrtausenden erloschen, so wie Hunderte anderer Vulkane in Chile.

Zunächst wehte eine tödliche Gasblase in Schneisen talabwärts, so daß der Wald auf großen Flächen starb, dann schleuderte der Vulkan Asche in einer enormen Rauchsäule bis auf 20 Kilometer Höhe. Chaitén wurde binnen eines einzigen Tages von zwanzig Zentimetern Asche bedeckt, woraufhin die Regierung in einer Blitzaktion rund 7000 Einwohner im Umkreis von 50 Kilometern evakuierte. Tausende Tiere mussten auf den Weiden ihrem Schicksal überlassen werden und verendeten. Dann trat der Rio Blanco, der unterhalb des Vulkans entspringt, über die Ufer und überschwemmte das Gebiet mit einer dicken Decke aus Geröll und Schlamm. 40% der bebauten Fläche von Chaitén wurde vollständig zerstört.

Die Spuren der Verwüstung sieht man heute noch deutlich, aber man sieht auch, wie sich die Natur langsam erholt. Großblättrige Nalca-Pflanzen und Farne bedecken schon die dicke Ascheschicht auf dem Boden rund um die abgestorbenen, gespenstisch wirkenden Stämme der einstigen Urwaldbäume und bringen Grün in die graue Ödnis.

Trotz der latent stets drohenden Gefahr über ihren Köpfen haben sich die Bewohner schon nach wenigen Monaten entschlossen, ihr altes Chaitén wieder aufzubauen. Sie befreiten die Straßen von der Asche, setzen ihre Häuser in Stand, versorgten sich mit Strom aus dem Generator und versuchten, ihr Leben so gut es ging in die Normalität gleiten zu lassen. Es scheint zu funktionieren. Die Menschen, die vor dem Ausbruch hier lebten und jetzt wieder leben müssen entweder Fatalisten oder Meisterverdränger sein.

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Wir sind von der kurzen Nacht auf der Fähre müde und schlafen erst einmal eine Runde, bevor wir in den Parque Nacional Pumalin weiterfahren. In der zweiten Nacht, die wir dann in der Einsamkeit des Parks verbringen, bebt die Erde. Ein leichtes Zittern, das vier, fünf mal unter dem Wagen durch den Boden läuft, nicht stark, aber doch so daß man davon aufwacht. In Chile hatten wir dies schon öfter erlebt und uns langsam damit „angefreundet“, aber es ist etwas völlig anderes, wenn man in stockfinsterer Nacht direkt zu Füßen eines sichtlich nervösen Vulkans nur sechshundert Meter über dem Kopf steht, auf vielen Kilometern keine Menschenseele weit und breit, keine Möglichkeit sich zu informieren. Für einen Moment überkommt einen ein beklemmendes Gefühl des Ausgeliefertseins. Jetzt am besten noch einen Krimi lesen, in dem ein blutrünstiger Axtmörder in Patagonien sein Unwesen treibt, und … gute Nacht.

Carretera Austral

Vor uns liegen 1.200 Kilometer Wildnis. Viele sagen, die Carretera Austral ist die schönste Route in die Einsamkeit. Für uns ein Highlight unserer Reise und wir sind gespannt, was uns in den kommenden Wochen erwartet, ob unsere durch Literatur und Dokumentationen geschürten Erwartungen erfüllt oder enttäuscht werden. 1.200 Kilometer bis Villa O´Higgins am Ende der Carretera, und dann sind wir noch lange nicht am Ende dieses Kontinents. Südlich von Puerto Montt beginnt das chilenische Patagonien, das Gebiet der Gletscher, der kalten Regenwälder und des großen Inlandeises, des Campo de Hielo de San Valentin, des Campo de Hielo Norte und des Campo de Hielo Sur.

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Erst während der Pinochet-Diktatur wurde diese abgeschiedene Region an das übrige Chile angebunden; davor lebten die wenigen indianischen Einheimischen autark, vom Fisch- und Robbenfang in den Fjorden und im Einklang mit der Natur. Die ersten Europäer kamen Mitte des 16ten Jahrhunderts, wobei das Interesse nur sporadisch war. Charles Darwin und sein Capitän Fitz Roy segelten mit der Beagle 1834 die patagonische Küste entlang, einige chilenische Expeditionen folgten, um das Land zu kartographieren und der Deutsche Hans Steffen erforschte von 1870 bis 1902 intensiv den Süden. Bis ins zwanzigste Jahrhundert kam die Region über kleine Handelsstationen für Holz und Robbenfelle nicht hinaus. Dann erhielt die Sociedad Industrial de Aysén 800.000 Hektar Land zwecks Erschließung, parzellierte dieses und verkaufte es wiederum an chilenische und argentinische Familien, die profitorientiert auf erfolgreiche Viehzucht spekulierten. Was folgte, war eine großflächige Abholzung der bis dahin unberührten Waldbestände. Chiles Regierung unterstützte diese Maßnahmen mit einem Gesetz, welches besagte, daß „ nur Land dann in endgültigen Besitz übergehe, das gänzlich vom Urwald befreit wurde“. Infolgedessen wurden mit Großfeuern allein in den 1940er Jahren Urwaldflächen von der Größe Nordrhein-Westfalens vernichtet.

Über weitere Jahrzehnte blieb die Region weitgehend isoliert, bis in den 1970er Jahren Augusto Pinochet aus überwiegend militärischen Gründen den Auftrag für die Ruta 7, die Carretera Longitudinal Austral Presidente Pinochet gab, kurz die Carretera Austral. Das Militär fräste eine Piste durch die Wildnis, die Berge in Serpentinen hinaufklettert, sich an Fjorden entlang schlängelt, durch den Urwald, Sumpfgebiete, Weideland und entlang Wildwasserflüßen führt. Auch wenn das Gebiet längst nicht mehr so abgeschieden wie vor einhundert Jahren ist, hier ist das Wetter immer noch der alles entscheidende Faktor. Verspätete Fähren, Überflutungen und die Piste blockierende Erdrutsche gehören zum Alltag.

Wir werden sehen, welche Überraschungen die Carretera Austral für uns bereit hält.

Chiloé

Die Farbe des Himmels ändert sich alle paar Minuten. Das strahlende Blau, gerade noch vom Wind völlig wolkenfrei gefegt, wird urplötzlich von großen, tief über den Hügeln hängenden, Regenwolken verdunkelt. Sicherheitshalber kramen wir – erstmals auf dieser Reise – unsere Regenjacken raus. Das kann nur bedeuten, daß wir auf Chiloé angekommen sind, der Insel, von der Charles Darwin in seiner Beagle-Dokumentation behauptete, ihr Klima sei „schaudervoll“. Ganz so schlimm ist es nicht, aber mit Regen müssen wir auf unserer weiteren Reise durch Patagonien jetzt wohl häufiger rechnen.

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Der Archipel südlich von Puerto Montt besteht aus rund vierzig kleinen Inseln und der Hauptinsel, die ca. 180 km lang und 50 km breit und nach Feuerland damit die zweitgrößte Insel Südamerikas ist. Wir sind mit einer kleinen RoRo-Fähre über den Canal de Chacao angekommen und beschließen, zunächst den Nordteil der Insel zu erkunden, bevor wir weiter zur Inselhauptstadt Castro fahren. Die Überfahrt vom Festland hat inklusive der Fahrzeug-Verladung rund zwanzig Minuten gedauert. Seit einiger Zeit gibt es Pläne, eine 2600 Meter lange Brücke über den Canal de Chacao zu bauen, aber bisher scheitert das Vorhaben am heftigen Widerstand der Chiloten, die ihre jahrhundertelange Abgeschiedenheit nicht gerne aufgeben möchten.

Aufgrund der Isoliertheit der Insel konnten vielfältige Traditionen und Mythen entstehen, die auch heute in perfekter Symbiose mit Kirche, Telefon, TV und Internet im Alltag der Menschen weiterleben. Auch die Jesuiten, die um 1600 die Kolonialisierung der Insel mit ihrer gewohnt sanften Hartnäckigkeit betrieben, und die pragmatischen deutschen Siedler, die später kamen, änderten nichts an der Tatsache, daß die Chiloten weiterhin an Hexen, Geisterschiffe, Feen und Zauberer glaubten, die in den Wäldern lebten, darunter der trauco, ein kleiner Troll, der gerne jungen Mädchen nachstellt. Die Menschen hier begegnen uns auch etwas anders als ihre chilenischen Mitbürger vom Festland: Sie sind zwar gleichermaßen freundlich, aber etwas weniger mitteilsam. Außerdem sind sie die Ruhe in Person, denn hier gilt das Sprichwort „Wer sich beeilt, verliert Zeit“.

Wir fahren nach Ancud ganz im Norden der Insel, mit knapp 40.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt auf der Hauptinsel und von den Spaniern 1767 als Verteidigungs- und Versorgungsposten für die Kap-Hoorn-Segler angelegt. Die Bebauung aus Holzhäuschen rund um die zentrale Plaza und den Hafen ist eng und verwinkelt, so daß wir mit dem Unimog ziemlich rangieren müssen. Wir fahren weiter zur Halbinsel Lacuy, wo man frische Austern essen kann, und schon bald geht die bisher geteerte Straße in eine Schotterpiste über. Auf kleinen Inseln vor der Küste von Punihuil nisten während der Sommermonate mehrere Kolonien von Magellan– und Humboldt-Pinguinen und wir beobachten vom flachen Sandstrand aus, wie einige Touristen aus einem kleinen Fischerboot ausgebootet und mit einem großrädrigen Karren mit dicker Gummibereifung trockenen Fußes durch das seichte Wasser zurück ans Land gebracht werden.

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Ohne konkretes Ziel fahren wir die Piste weiter und gelangen zu einem Platz hoch über einer wunderschönen Bucht. Die sanfte Hügellandschaft mit ihren sattgrünen, mit bunten Frühlingsblumen übersäten Wiesen erinnert ein bisschen an Irland, die Kühe und Schafe grasen auf Weiden, die bis zu den Stränden hinunter reichen, bizarr geformte Bäume signalisieren eindeutig die vorherrschende Windrichtung und das Meer glitzert in einem karibischen Türkisblau. Bei Sonne scheint die Insel geradezu zu leuchten. Spontan beschließen wir, hier ein bisschen zu bleiben.

Als es entlang der Küste nicht mehr weiter geht nehmen wir wieder Kurs auf die PanAm und fahren zur Inselhauptstadt Castro, die berühmt für ihre bunten palafitos entlang der Wasserfront und ihre alte, lila-gelb angemalte Holzkirche ist. Die dünnwandigen Pfahlbauten sind zum Wasser hin auf Stelzen gebaut, so daß die Fischer bei Flut mit ihren Booten direkt unter ihre Häusern fahren konnten. Bei Ebbe fällt der Strand unter den Häusern trocken. Immer schon mehrheitlich das Zuhause der ärmeren Bevölkerung waren die palafitos eine lange Zeit dem Verfall preisgegeben, bevor ihr touristisches Potenzial erkannt wurde. Retro ist chic. Vorausschauende Unternehmer und trendbewußte Architekten haben inzwischen einige von ihnen zu kleinen Hotels und Restaurants umgebaut.

Castro ist nicht nur ein Ziel von Backpackern und Reisenden wie wir, sondern wird auch von vielen Kreuzfahrtschiffen während der Sommermonate angelaufen, die gerne ihr Geld für ein typisch chilotisches curanto ausgeben, dem Inselgericht aus. Ursprünglich legte man heiße Steine in ein Erdloch, schichtete Meeresfrüchte, Fleisch, Huhn, Wurst und Gemüse darauf und deckte darüber die großen Blätter der Nalca-Pflanze. Anschließend ließ man das Ganze zwei Stunden schmoren. Heute stammt das curanto, welches in den Restaurants serviert wird, aus großen Schmortöpfen.

Der gaumenverwöhnte DerNachbar, der Chiloé bereits vor uns besucht hat, hatte uns noch einen Gourmet-Tipp für Castro gegeben: das Café Ristretto, und wir werden nicht enttäuscht. Entgegen des in Chile sonst üblichen Nescafé in Tütchen bekommt man hier einen echten Cappuccino serviert. Mit Milch aufgeschäumt, so wie er sein soll. Auch wenn es geschmacklich nicht wirklich passt, wir gönnen uns dazu eine Pizza, satt belegt mit Sardellen und Kapern bzw. Schinken und Champignons. Als dann noch das Internet langsam, aber ansonsten anstandslos funktioniert, sind wir glücklich.

Von Castro aus kreuzen wir noch ein paar Tage über die Insel und besuchen den Parque Nacional Chiloé an der Westküste, rund sechzig Kilometer von Castro entfernt. Die Fahrt führt an den malerischen, dicht bis an die Ufer bewachsenen Seen Huillinco und Cucao vorbei. Der Park selbst wurde 1982 eingerichtet, schützt auf einer Fläche von mehr als 43.000 Hektar undurchdringlichen Urwald mit Jahrhunderte alten Alercen, Laub- und Nadelwäldern, Lagunen und Mooren und reicht bis an den tosenden Pazifik, von dem er durch einen Dünengürtel getrennt ist.

Der weitaus größte Teil des Parks ist unzugänglich, aber vereinzelte Wanderwege ermöglichen einen schönen Einblick in die üppige Fauna des Regenwaldes. Wir verbringen eine Weile an einem breiten, einsamen Strand, wo ein vom Meer geformter Kieselstein schöner als der andere ist, und beobachten das Wolkentheater am Himmel.

Was wir von Chiloé sehen, gefällt uns sehr gut. Die hügelige Landschaft ist in allen Grüntönen schattiert und die Wiesen sind mit Butterblumen, Vergißmeinicht und Gänseblümchen übersät. Die Menschen leben auf kleinen, von Weidezäunen aus Holz umgebenen Gehöften und in ihren Gärten setzen üppig wachsende blaue Hortensien, pinkfarbene Rhododendren und Stockrosen fröhliche Farbtupfer. Mehrfamilienhäuser oder zur Miete wohnen wie in Europa sind hier unbekannt, fast jeder hat hier uralten, von Generation zu Generation vererbten Grundbesitz. Im Gegensatz zu den Tieren im wüstenhaften Norden des Landes sind die Rinder, Pferde und Schafe kugelrund, haben glänzendes Fell und schauen zufrieden. Kälberwiesen wie in Deutschland gibt es nicht; hier bleiben die Familien lange zusammen und die Milch bekommt das Kalb und nicht Aldi. Überall auf der Insel stehen winzige, mit Alerce-Schindeln verkleidete Kirchen. Insgesamt gibt es auf Chiloé 150 dieser Kirchen, von denen sechzehn in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen wurden. Die Außenvertäfelung mit den rund 90 Zentimeter langen Schindeln, von denen nur ein Drittel sichtbar ist, ist vielfältig. Insgesamt gibt es zehn verschiedene Stile von tejuelas.

In Castro hatten wir die Fährpassage für die Überfahrt Quellón – Chaitén gebucht. Das Boot fährt zweimal pro Woche und die Überfahrt dauert je nach Wetter vier bis fünf Stunden. Quellón mit seinen 15.000 Einwohnern ist die südlichste Stadt der Insel und gelangte zu landesweitem Ruhm, als hier 1906 die erste Schnapsbrennerei Chiles errichtet wurde. In ihren Anfängen kaufte sie 150.000 Hektar Wald, der nach und nach zu Holzkohle verfeuert wurde. Die Brennerei gibt es heute nicht mehr und Quellón lebt von der Muschel- und Lachszucht im Golfo Corcovado sowie von der steigenden Zahl an Touristen. Die Stadt selbst ist unspektakulär, aber vom Strand mit den bunten, auf den Wellen schaukelnden Fischerbooten bieten sich bei wolkenlosem Himmel herrliche Blicke auf die schneebedeckten Vulkane viele Kilometer entfernt auf dem Festland gegenüber.

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Unsere Fähre, die Don Baldo, soll um 3.00 Uhr – ja, mitten in der Nacht – in Quellón ablegen. So ungefähr jedenfalls, festlegen möchte sich niemand so genau. Wir werden aufgefordert, uns wegen der Fahrzeugverladung bereits um Mitternacht im Hafen einzufinden. Hinweisschilder, wo die Don Baldo anlegen wird, gibt es keine in der Stadt, daher fragen wir uns durch. Wir sind frühzeitig an der Anlegestelle bei den Fischverarbeitungsbetrieben und Lachsfarmen im Norden der Stadt, stellen den Wecker und legen uns für kurze Zeit hin. Aufgrund der langen Verladezeit, die uns angegeben wurde, erwarten wir ein relativ großes Schiff, aber als die Don Baldo einläuft ist sie nicht wirklich groß. Auf dem Steg reiben wir uns noch den Schlaf aus den Augen, als wir ein deutsches Paar aus Jena wiedersehen, die wir bereits in Cusco auf der Quinta Lala kurz kennengelernt hatten. Ihre Reiseroute war seitdem ganz anders als unsere, aber hier kreuzen sich überraschend unsere Wege.

Die Bugklappe der Don Baldo wird – die Estonia-Katastrophe scheint hier unbekannt zu sein – schon weit vor der Anlegestelle vollständig heruntergefahren, dann legt das Schiff in schrägem Winkel an der Betonrampe an und das Verladen beginnt. Insgesamt werden acht große Sattelschlepper mit jeweils rund 50.000 Litern Benzin und Diesel rückwärts auf die Fähre gefahren, wobei die Fahrer fast im rechten Winkel um die Ecke rangieren müssen. Alle Achtung, das ist eine Meisterleistung. Anschließend werden Unimoppel und der einzige weitere PKW verfrachtet, dann ist der Schiffsbauch voll und die nächtliche Fahrt zum Festland beginnt. Ein etwas seltsames Gefühl, mit fast einer halben Million Liter hochexplosiver Fracht unterwegs zu sein, aber das Meer ist spiegelglatt, die Überfahrt ruhig und wir können in unseren Sesseln dösen, bis wir frühmorgens im verschlafenen Chaitén, unserem Einstieg in die Carretera Austral, ankommen.

Verliebt in Chile

Nach den wenig ersprießlichen Kontakten und überwiegend ernüchternden zwischenmenschlichen Erfahrungen mit den Einheimischen in Bolivien – Peru war deutlich besser – sind wir hier jetzt geradezu verliebt in Land und Leute. Sich mit Chileninnen und Chilenen zu unterhalten und Zeit zu verbringen macht einfach Spaß. Sie haben eine äußerst angenehme Art, auf Menschen zuzugehen und mit Menschen umzugehen. Dies bezieht sich nicht nur auf Fremde wie uns, sondern in gleichem Maße auf den Umgang unter ihresgleichen.

Ihre Umgangsformen sind vorbildlich in ihrer Höflichkeit und Eleganz, ohne aufgesetzt oder affektiert zu wirken. Bei einer Begegnung, egal, ob vor dem Supermarkt, am Strand oder in einem Restaurant, egal ob jung oder alt, gehört es zum guten Ton, sich mit dem Vornamen vorzustellen und die Hand zu reichen. Beim Händedruck werden die Hände nicht geschüttelt, wie häufig in Europa, sondern mit mäßig festem Druck ineinandergelegt und die Hand des Gegenüber wird für einen kurzen Moment länger gehalten als bei uns üblich. Es fühlt sich angenehm an, etwas persönlicher und verbindlicher, keineswegs aufdringlich. Beim Abschied gibt man sich erneut die Hand und manchmal legt der Chilene oder die Chilenin zusätzlich die freie Hand leicht aufs das Handgelenkt. Immer, selbst wenn wir nur in der panaderia ein Brot kaufen, wird uns ein von Herzen kommendes „Que le vaya bien“ mit auf den Weg gegeben.

Selbst eine Polizeikontrolle auf dem Land ist hier ein angenehmes Erlebnis, denn der Polizist in seiner schicken dunklen Uniform fragt mit beispielhafter Liebenswürdigkeit „Gestatten Sie, daß wir uns kurz Ihre Dokumente anschauen?“ Wir trauen unseren Ohren nicht.

Wir werden immer wieder auf eine nette Art angesprochen und die Menschen zeigen aufrichtiges Interesse an uns, unserem Fahrzeug, unserer Reise und der Familie in Deutschland, ohne dabei neugierig zu sein. Die meisten Chilenen haben europäische Wurzeln und je südlicher man im Land reist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, im Stammbaum der Familie Großeltern oder Urgroßeltern aus Italien, der Schweiz oder Deutschland anzutreffen. Von der Sprache ist meist nicht viel geblieben, aber viele Traditionen haben sich bis heute erhalten und werden mit Hingabe gepflegt. In den Bäckereien gibt es nach wie vor keinen spanischen Begriff für „Kuchen“, man hängt Blumenkästen vor die Fenster und tanzt Walzer.

Außerdem zeichnen sich die Chileninnen und Chilenen durch eine auffallend große Gastfreundschaft aus. Im Laufe der Gespräche haben wir immer wieder Einladungen zum Essen nach Hause erhalten, die ernst gemeint waren, da sie wiederholt und mit großem Nachdruck ausgesprochen wurden.

Wirft man einen Blick zurück in die Geschichte des Landes, dann werden enge Verflechtungen von Deutschland und Chile offensichtlich. Chile hat immer eine offene Einwanderungspolitik betrieben und die erste Welle deutscher Siedler, die sich überwiegend im Süden niederließen, setzte ab 1850 ein. Diese Siedler waren in Ackerbau und Viehzucht, aber auch in Handwerk und Brauereikunst sehr erfolgreich. Erste größere Unternehmen entstanden, das Militär wurde mit Hilfe von Deutschen geschult und organisiert und die Firma Krupp lieferte Waffen aus Essen. Die nachfolgenden Generationen standen fest hinter der aggressiven deutschen Außen- und Wirtschaftspolitik, und auch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gab es zunächst mehr Beifall als Kritik.

Das änderte sich, nachdem Chile auf Drängen der USA den Alliierten beitrat und deutsche Firmen auf die black list setzte. Nach dem Zusammenbruch des Hitler-Reiches hatten deutsche Namen in Chile keinen guten Klang mehr, und die deutschstämmigen Chilenen verleugneten häufig ihre Herkunft und betonten das Chilenentum zunehmend. Während des Nazi-Regimes retteten sich rund 13.000 Menschen, der überwiegende Teil Juden, nach Chile. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges flüchteten aber auch ehemalige Funktionäre auf der Suche nach einem Versteck erfolgreich in das Land hinter den Bergen, denn die chilenische Regierung lehnte eine Auslieferung nach Deutschland. Während der Pinochet-Diktatur setzte dann eine umkehrte Migration ein; mehrere Zehntausend Chilenen flohen vor den Repressalien und der Gewalt in die beiden deutschen Staaten und baten um Asyl, kehrten aber ab Mitte der 1980er Jahre weitestgehend mit ihren Familien in die Heimat zurück.

Prominenteste deutsche Einwanderin der jüngeren Vergangenheit ist Margot Honecker, die von ihrer Witwenrente in Höhe von rund 1.500 EUR nahe Santiago lebt.

Wer sich tiefgehender interessiert: Die chilenische Schriftstellerin Isabel Allende, die in Kalifornien lebende Nichte von Salvador Allende, hat in ihrem Buch „Mein erfundenes Land“ ein schönes und amüsantes Porträt ihrer Landsleute gezeichnet.

Unterwegs im Seengebiet

Touristisch ist Chile in „Rutas“ aufgeteilt: Wir haben schon die Ruta del Desierto im Norden erlebt, die Ruta de las Estrellas (Route der Sterne) im Valle del Elqui, sind über die Ruta de los Rios (Route der Flüsse), Ruta de los Bosques (Rute der Wälder), Ruta del Mar (Routes des Meeres) gefahren. Jetzt haben wir die Ruta de los Lagos erreicht, die Route der Seen.

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Nach einem Bummel durch Osorno fahren wir, jetzt zu Dritt, noch am gleichen Tag ostwärts zum Lago Puyehue und weiter in den Parque Nacional Puyehue, einen der weniger bekannten aber nicht minder schönen des Seengebietes. International in die Schlagzeilen kam der Nationalpark 2011, als nach über fünfzig Jahren die Vulkankette Puyehue – Caulle erstmals wieder ausbrach. Von der explosionsartig austretenden Aschewolke war besonders das auf argentinischer Seite liegende Bariloche betroffen. Die Asche wurde über Australien und Südafrika einmal um die ganze Welt geweht, beeinträchtigte den Flugverkehr spürbar und traf nach zwei Wochen wieder in Chile ein. Bis 2013 grollte der 2.236 Meter hohe Vulkan Puyehue weiter, erst dann beruhigte er sich wieder.

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Wir fahren am dem grau-blauen, stillen See vorbei weiter bis zu den Thermen von Aguas Calientes. Immer wieder geben die dichten, bis direkt ans Seeufer reichenden Urwälder den Blick auf schneebedeckte Gipfel frei. Am nächsten Morgen geht es über eine Schotterpiste noch ein Stück weiter bis zum Refugio Antillanca zu Füßen des schneebedeckten Vulkans Casablanca auf 1.050 Metern. Im Winter werden hier mehrere kleine Skilifte betrieben, die ihre Gäste bis auf 1.500 Metern befördern. Jetzt, außerhalb der Saison, ist außer uns kaum jemand zu sehen und die Lifte stehen still, aber das kleine Restaurant vor Ort hat die Terrasse bei dem strahlend blauen Himmel geöffnet. Hugo nutzt die Gelegenheit für einen Flug und kann aus nächster Nähe einen Blick auf die weißbemützten Vulkane Casablanca, Osorno und Puyehue werfen.

DerNachbar und ich sind ein wenig neidisch…Den Abend und die Nacht verbringen wir auf einem Lavafeld unterhalb des Gipfels. Oliver darf Erdbeeren schnippeln, Hugo muß den Cabernet Sauvignon öffnen… Mit Bioschaffell, Fleecedecke und Daunenschlafsack bewaffnet zieht DerNachbar später in unseren Markisenluxusanbau um.

Nachdem wir Oliver am nächsten Morgen mit Kaffee wieder aufgetaut haben geht die Fahrt weiter zum Lago Llanquihue. Mit 86.000 Hektar ist der Lago Llanquihue nach dem Lago General Carrera der zweitgrößte See Chiles. An sonnigen, wolkenlosen Tagen spiegelt sich der vollkommen symmetrische Kegel des Vulkans Osorno auf seiner dunkelblauen Oberfläche. Heute ist der Himmel leider grau und bedeckt und so spiegelt sich, außer der Enttäuschung in unseren Augen, rein gar nichts wider. Trotzdem, für viele ist der 2.660 Meter hohe Vulkan mit dem Kragen aus Eis und Schnee der schönste Chiles.

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Auf dem Weg nach Puerto Octay am Nordufer des Sees kommen wir an etlichen sehr alten landwirtschaftlich geprägten Siedlungen vorbei. Den meisten aus Holz errichteten Häusern hat die raue Witterung gnadenlos zugesetzt, aber es gibt auch gut gepflegte Schmuckstücke, die noch vollständig mit alten Holzschindeln aus Alerce gedeckt sind.

Diese Region Chiles, eigentlich Mapuche-Territorium, wurde überwiegend von deutschen Einwanderen um 1850 besiedelt und vieles erinnert noch heute daran. In den Vorgärten der kleinen Häuser blühen Rosen und Fuchsienbüsche und in den Cafes gibt es „Kuchen“.

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Zahlreiche Orte hier tragen die Endung –hue, was in der Sprache der Mapuche „Ort“ bedeutet. Llanquihue bedeutet „tiefer Ort“. De facto liegt der See 70 Meter über dem Meeresspiegel und seine größte Tiefe beträgt 350 Meter. Abends finden wir direkt an seinem Ufer versteckt hinter hohen Büschen einen schönen ruhigen Stellplatz.

Am nächsten Morgen lädt der See zum Baden ein, aber nur Hugo hat Mumm genug, sich in die eisigen Fluten zu wagen. Sein Vergnügen – und unseres – dauert zwei Sekunden. Ich ziehe die Außendusche vor, die mangels Heizung aber auch nicht viel wärmer ist. Wir entscheiden uns, entlang des Ostufers über Puerto Fonck, Puerto Klocker und Ensenada weiterzufahren, machen einen Abstecher in das mitten in einem Naturwald gelegene Petrohue, kehren dort um und fahren südwärts über Ralún bis Cochamo. Dabei durchfahren wir einen schönen, weiß blühenden Ulmo-Wald mit knorrigen Bäumen. In Ralún erreichen wir den tief ins Landesinnere schneidenden Fjord Estero de Reloncavi. Über die Schotterpiste folgen wir dem Ostufer des Fjordes bis zum beschaulichen Cochamo. Die Holzschindelkirche in der Dorfmitte ist uralt. Abends bekommen wir an unserem Stellplatz überraschend berittenen Besuch.

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Der stolze Reiter mit den wunderbaren, den Chilenen ganz eigenen höflichen Umgangsformen, hält ein freundliches Schwätzchen mit uns, erklärt, daß die Ziegenfall-Leggins die Feuchtigkeit abhalten, die Steigbügel alt und aus Holz handgeschnitzt sind und daß er eine kleine Website betreibt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden habe, aber ja, es stimmt: Er bewirbt sein Ein-Mann-Unternehmen ganz professionell über das Internet. Er besitzt zehn Pferde und wer möchte, kann mit ihm mehrtägige Ausritte ins Valle Cochamo machen. Das tiefe, unzugängliche Tal mit uralten Wäldern ist unter Freeclimbern als spektakuläres Klettergebiet bekannt. Hier gibt es bis zu 1000 Meter hohe vertikale Granitwände, ähnlich denen im Yosemite-Park in den USA, aber im Gegensatz dazu ist diese Region nicht mit Freeclimbern überlaufen.

Der Unimog wird inzwischen souverän im Schichtbetrieb gefahren: Vormittags sitzt Oliver, nachmittags Hugo am Steuer.

Den gesamten Fjord entlang fahren wir bis Caleta Puelche, wo wir in einer halben Stunde mit einer kleinen Fähre übersetzen, und entlang der Bucht von Reloncavi weiter nach Puerto Montt fahren, welches in einem weitem Bogen von zwei Kilometern Ausdehnung die Bucht umspannt.

Deutsche Siedler erbauten die Stadt Mitte des 19ten Jahrhunderts und benannten sie nach dem damaligen chilenischen Präsidenten Manuel Montt, der die Einwanderung nach Chile befürwortete. Insgesamt bietet Puerto Montt außer einigen gut restaurierten Alerce-Schindelhäusern aus der Gründerzeit und dem Blick auf den schneebedeckten Vulkan Calbuco nur wenig Sehenswertes, sondern lebt von der Lachs- und Muschelzucht in den Fjorden und von ihrem Hafen.

Hier endet die gemeinsame Zeit mit Oliver und wir setzen ihn frühmorgens am kleinen Flughafen von Puerto Montt ab. Auf ihn warten die Atacama-Wüste im Norden und die geheimnisvollen steinernen Moai auf der Osterinsel, auf uns Patagonien und Tierra del Fuego, die Inselgruppe am südlichsten Zipfel des Kontinents.

Wir geben Gas

Von Isla Negra geht es die Küste entlang weiter, den größten Teil über asphaltierte Wege, manchmal über Piste. San Antonio mit seinen großen Verladekränen hat in Bezug auf den Warenumschlag Valparaiso den Rang angelaufen und ist inzwischen der größte Hafen Chiles.

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Der noble Ort Rocas de Santo Domingo südlich von San Antonio könnte mit seiner Ruhe ausstrahlenden Exklusivität und dem Golfplatz genauso gut in Kalifornien liegen und richtig, wie wir im Copec Guide später nachlesen, die Architekten Smith Solar & Smith Miller haben den Badeort nach dem Modell von Palos Verdes, CA, geplant. Auf den dunklen Felsen oberhalb des Meeres stehen wunderschöne Anwesen auf großen gepflegten Grundstücken mit altem Baumbestand, die von den örtlichen Gärtnern auch außerhalb der Saison bestens gepflegt werden. Ansonsten wirkt der Ort ausgestorben.

Mit Pichilemu erreichen wir das einstige Seebad des chilenischen Landadels. Der palmenbestandene Parque Agustin Ross Edwards und das Spielcasino zeugen noch von der aristokratischen Vergangenheit des Ortes Ende des 19ten Jahrhundert. Heute steht jedoch ein anderer Ortsteil im Zentrum der nationalen und internationalen Aufmerksamkeit. Punta de Lobos ist eine kakteenbewachsene Felsnase, die wenige Kilometer südlich des Küstenstädtchens ins Meer ragt und ein Treffpunkt der Surfelite ist. Die Pazifikwellen hier gelten als die besten Südamerikas. Da Punta de Lobos fast auf dem Weg liegt fahren wir am späten Nachmittag auf einen Sprung zum Zuschauen hin. Nachdem sich die surfistas in ihren dicken Neoprenanzügen mit ihren boards durch weißschäumendes Wasser zunächst bis zu einer scharfkantigen Felsinsel durchgekämpft haben stürzen sie sich in die bis zu zehn Meter hohen Röhrenwellen. Für die Könner unter ihnen lohnen sich die Mühe und das Risiko, denn die Wellen sind lang, bilden schöne Tunnel und legen einen weiten Weg zurück, bis sie am breiten Strand mit Getöse brechen. Viele Ausländer haben sich aufgrund der buena onda, der guten Welle, und der sorglosen Stimmung hier im Surf-Mekka Chiles inzwischen fest oder mit einem zweiten Wohnsitz niedergelassen.

Knapp zwanzig Kilometer weiter südlich dagegen wird in Cahuil noch ganz archaisch Salz per Hand gewonnen. Entlang der großen, von Ebbe und Flut geprägten Lagune wird auf Verdunstungsfeldern dem Wasser das Salz entzogen, welches dann von den gegerbten Arbeitern in große Säcke geschaufelt wird.

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Unsere Fahrt führt uns zunächst weiter durch einige winzige Fischerdörfer wie Bucalemu und Boyeruca, wo die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, und dann über Piste durch große kommerzielle Kiefernplantagen, die die ursprüngliche Vegetation der Küstenkordillere hier ersetzt haben. Die Wellblechpiste ist so hart, daß Hugo Luft aus den Reifen lässt; mit 25% weniger Druck fährt es sich deutlich angenehmer.

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In der blühenden Landschaft stehen gewaltige Forst- und Holzverarbeitungsbetriebe, die von schwerbeladenen LKW mit frisch geschlagenen Stämmen im Halbstundentakt beliefert werden. Immer wieder sehen wir große Werbeplakate für ein deutsches Produkt: Stihl Kettensägen. Bei unserem Versuch, den Weg über Ziehwege in den dichtbewachsenen Plantagen abzukürzen, verfransen wir uns kurz vor Einsetzen der Dämmerung beinahe hoffnungslos. Weder Karten noch Navi-Software geben in den tief eingeschnittenen Tälern mit den hochwachsenden Bäumen auch nur annährend eine Orientierungshilfe. Bevor es zu dunkel wird entscheiden wir uns, umzukehren und die „vernünftige“ Strecke zum Lago Vichuquén zu nehmen. Zeit zu verbummeln können wir uns nicht leisten, denn wir sind am 15ten in Osorno mit DerNachbar verabredet und müssen uns gewaltig sputen, um die Strecke bis dorthin noch zeitig zu schaffen.

Von Vichuquén aus ist das Meer über die Piste schnell erreicht. Hier sind an den langen, flachen Stränden, ganz besonders in Lloca und Caleta Duao, noch immer die Spuren des Tsunamis im Februar 2010 zu sehen und es wird noch eine Weile dauern, bis sich dieser Küstenabschnitt ganz erholt hat. Die Zeit scheint hier langsamer zu laufen und wir bekommen einen schönen Einblick in das ländliche, geruhsamere Chile. Die Fischer und Bauern transportieren hier teilweise ihre Waren wie zum Beispiel handgemachten Käse, Papayas oder Erdbeeren noch mit Ochsenkarren.

Bei Pelluhue mit seinem langen, schwarzsandigen Strand nördlich der Industrie- und Kohlestadt Concepción schlagen wir einen Haken landeinwärts und fahren bei Parral, das ein bisschen anmutet wie eine Westernstadt, wieder auf die vierspurige mautpflichtige Panamericana, die hier mittig von Nord nach Süd durch Chile verläuft. Hier gibt es nur zwei Richtungen:

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Je weiter nach Süden wir kommen desto grüner wird die Landschaft. Neben Weizenfeldern und Obstplantagen fahren wir auch entlang großer bewässerter Reisfelder. Wenn wir links aus dem Fenster blicken reiht sich wie auf einer Perlenkette ein schneebedeckter Vulkangipfel an den anderen, das Panorama vor dem blauen Himmel ist wunderschön.

Siebzig Kilometer südlich von Chillán unternehmen wir einen kleinen Abstecher zum Salto del Laja, den größten Wasserfällen Chiles. Kein Vergleich mit Iguacu, aber die Wasserwand, die sich fünfzig Meter tief in eine enge Schlucht stürzt, ist immerhin einhundert Meter breit und durchaus beeindruckend.

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Irgendwann unterwegs stellen wir fest, daß unsere Truma-Heizung in der Kabine nicht mehr funktioniert. Zu dumm, denn sie bereitet auch zehn Liter 60 Grad warmes Wasser für die Dusche auf. Alle Versuche, den Fehler zu finden und zu beheben, bleiben ergebnislos. Die Fehlermeldung in Form eines Strichcodes lässt siebzig !!! verschiedene Fehlermöglichkeiten zu, aber die Heizung kann nur maximal 15mal neu gestartet werden. Wir wenden uns an den Hersteller in Deutschland und nach einigen Telefonaten lassen wir uns einen neuen Brenner und eine neue Steuerung nach Coyhaique an der Carretera Austral schicken.

Die letzten vierhundert Kilometer bis Osorno geben wir mit Maximalgeschwindigkeit von 75 kmh auf der PanAm Gas und erreichen die Plaza de Armas im Stadtzentrum pünktlich am Samstag Nachmittag um 15.00 Uhr. DerNachbar, der die Tage auf Chiloé verbracht hat, sitzt im Schatten großer Bäume entspannt auf einer Bank. Perfektes Timing.

Isla Negra

„Companeros, enterradme en Isla Negra, frente al mar que conozco, a cada area rugosa de piedras, y de olas que mis ojos no volveran a ver…“

„Freunde, begrabt mich in Isla Negra, gegenüber dem Meer, das ich kenne, an jenem rauen, steinigen Ort mit den Wellen, die meine verlorenen Augen nicht wiedersehen werden.“

Wir verlassen die Großstadt nach Westen und stoßen bei Algarrobo wieder an die Küste. Nördlich des Ortes erstreckt sich mit San Alfonso del Mar ein Hotelkomplex mit Guiness-Rekord: Eine künstlich angelegte Meerwasser-Lagune stellt mit 1.013 Metern Länge das längste Schwimmbad der Welt. Auch sonst ist die Gegend unübersehbar touristisch geprägt:

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Wir fahren weiter nach Isla Negra, rund 80 km südlich von Valparaiso gelegen. Isla Negra ist nicht, wie der Name vermuten lässt, eine schwarze Insel vor der chilenischen Küste, sondern eines der drei Häuser des Schriftstellers Pablo Neruda, sein Lieblingshaus und zugleich seine Grabstätte. Auf die Felsen oberhalb des Pazifiks gebaut spiegelt es die überbordende Phantasie des Dichters und seine lebenslange Leidenschaft für das Meer wieder. Er kaufte das Grundstück mit einem kleinen Steinhäuschen 1938 einem spanischen Seemann ab und nahm im Laufe der Jahre zusammen mit seinen Freunden, den Architekten German Rodriguez Arias und Sergio Soza, zahlreiche Änderungen und Erweiterungen vor. Überwiegend wurden dabei Holz und Naturstein aus der Gegend verwendet. Mit der Zeit entstand ein organisch anmutendes Gebilde, teils Wohnhaus, teils Arbeitsstätte, teils Museum.

Das Haus ist im Originalzustand erhalten und beherbergt Nerudas sagenhaftes Sammelsurium an über 3.500 Gegenständen, die er weltweit auf Flohmärkten selbst zusammentrug. Alte, aus Holz geschnitzte Galionsfiguren, die einst den Bug von Walfängern schmückten, zieren heute Wohn- und Esszimmer, die Bar im Garten ist mit einer großen Anzahl skurriler Glasflaschen ausgestattet, Buddelschiffe sind so an den Fenstern angebracht, daß sie für den Betrachter auf dem Ozean zu schwimmen scheinen, der Durchgang zum Anbau ist mit asiatischen Masken geschmückt, im Arbeitszimmer finden sich eine Sammlung von Pfeifen, Schmetterlingen, Käfern und Walzähnen und im von Neruda so genannten „Sala del Caballo“ steht ein lebensgroßes künstliches Pferd, welches er nach einem Brand „rettete“. Besonders gut hat uns seine sehenswerte Muschelsammlung aus aller Welt gefallen, die in einem separaten Raum perfekt ausgeleuchtet in Szene gesetzt ist. Jedes Teil seiner Sammlung hat eine eigene Geschichte, zu jedem hatte er eine persönliche Beziehung. In seinen Memoiren schreibt Neruda:„In Isla Negra habe ich kleine und große Spielzeuge zusammengetragen, ohne die ich nicht leben kann“.

Pablo Neruda liebte seine Heimat und das Meer sehr, wenngleich er sich auf Schiffen nicht wohl fühlte und Seefahrten wenn möglich zu vermeiden suchte. Sein von zwei Seiten sonnendurchflutetes Schlafzimmer liegt im obersten Stock des Haupthauses und vom Bett aus blickt man durch ein großes Panoramafenster direkt auf die Pazifikwellen, die sich an den Felsen brechen. Auf seinem Nachtschränkchen hatte Neruda ein Fernrohr liegen, um die vorbei fahrenden Schiffe zu betrachten.

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Neruda war Dichter, Konsul, Senator, Freund Salvador Allendes, leidenschaftlicher Antifaschist, Präsidentschaftskandidat, Literaturnobelpreisträger. Die internationale Auszeichnung erhielt er „Für eine Poesie, die mit der Wirkung einer Naturkraft Schicksal und Träume eines Kontinents lebendig macht.“ 1973, 12 Tage nach dem Putschversuch gegen seine Unidad-Popular-Regierung, setzte Nerudas Herz aus. General Augusto Pinchet ordnete heuchlerisch eine dreitägige Staatstrauer an, während seine Truppen die Häuser Nerudas in Valparaiso, Isla Negra und Santiago verwüsteten.

Heute sind der Dichter und seine dritte Frau, Matilde Urrutia, im Garten von Isla Negra beigesetzt, der Grabstein schaut auf das Meer und die Wellen, die er so sehr liebte.

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Einen umfassenden Überblick über sein buntes Leben als Künstler und Politiker geben seine Autobiographie „Ich bekenne, ich habe gelebt“ und seine Biographie von Volodia Teitelboim.

Santiago de Chile

Wir sind auf dem Weg in die Hauptstadt Chiles, die weitläufige Metropole mit über vier Millionen Einwohnern, das uneingeschränkte wirtschaftliche und intellektuelle Zentrum des Landes, ein Häusermeer mit glitzernden Bürotürmen vor der Kulisse der schneebedeckten Andengipfel. Rund fünfzig Kilometer vor Santiago wird die Landschaft fast auf einen Schlag grün. Schöne, teilweise sehr alte, denkmalgeschützte Weingüter und üppige Obstgärten wechseln sich entlang der PanAm, die hier vierspurig ausgebaut ist, ab. Nachdem wir über Monate fast nur Wüstenlandschaften mit wenig bis keiner Vegetation gesehen haben tut uns das satte Grün in den Augen fast weh.

Unterwegs lernen wir an einer Tankstelle ein liebenswertes, chilenisches Paar kennen, die uns nach einem kleinen Plausch prompt zu sich nach Algarroba an der Küste westlich von Santiago einladen. Die Einladung wird zweifach ausgesprochen, ist also ernst gemeint, und wir würden sie auch wahrnehmen, haben aber bereits einige feste Termine in der Hauptstadt.

Wir erwarten Besuch aus Deutschland: DerNachbar kommt und wir holen ihn am Flughafen nordwestlich des Stadtzentrums ab. Unimoppel dürfte keinen Zentimeter höher sein; er passt so eben unter der Parkplatzschranke durch. Die Maschine aus Madrid ist überpünktlich gelandet, aber das Gepäck lässt auf sich warten. Wir erwarten DerNachbar sehnsüchtig, denn er bringt neben einigen Ersatzteilen für den Wagen etwas Unverzichtbares mit: ein Glas Schokoschmiere – Handelsname NUTELLA!

Die Freude ist groß, als DerNachbar endlich in den Massen aus Passagieren, wartenden Angehörigen, Freunden und Taxifahrern mit Namensschildern auftaucht. Nach einem kurzen Stopp im zentral gelegenen Hotel fahren wir gemeinsam ins Stadtviertel Bellavista und mit der Funicular, der Seilbahn, hoch auf den Cerro Cristobal, den Stadtpark von Santiago mit einer phantastischen Aussicht auf „Sanhattan“ mit seinen spiegelnden Glaspalästen. Der Gran Torre Santiago ist komplett verglast und mit 303 Metern das höchste Gebäude Lateinamerikas. Noch ist der Sommer mit seiner brütenden Hitze nicht da und der Dunstschleier über der Stadt ist kaum wahrnehmbar.

Am Sonntagabend bummeln wir durch die verkehrsberuhigte Innenstadt, wo unzählige fliegende Händler ihre Waren auf Tüchern ausgebreitet anpreisen und bei nahender Polizei in Windeseile das Weite suchen. Straßenmusikanten, Puppenspieler und Akrobaten unterhalten die Passanten, Schuhputzer bieten im Vorübergehen ihre Dienste an.

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Für den Montag haben wir von unterwegs zwei Durchcheck-Termine vereinbart: Wir sind bei Mercedes angekündigt, wo wir den Unimog nach den vielen Achterbahnfahrten an seinen neuralgischen Punkten fachmännisch prüfen lassen wollen, bevor wir nach Patagonien aufbrechen. Die Verkehrsführung ist mörderisch und wir benötigen fast 1 ½ Stunden, bis wir die Mercedes-Vertretung gefunden haben. Die große Werkstatt liegt an einer Straße, die sich intelligenterweise beidseitig !!! der Autobahn über unzählige Blocks kilometerweit entlang zieht und immer wieder von der Stadtautobahn unterbrochen wird. Die Hausnummer liegt in den 16.000ern !!!, kann aber von keinem unserer drei Navigationssysteme angesteuert werden und die Karten sind ohnehin obsolet. Es geht also nur mit systematischer Sucherei. Wir fahren Block für Block ab, kreuzen die Autobahnen immer wieder, müssen zwangsweise U-Turns nehmen, fahren über unzählige Überführungen und durch Unterführungen und haben es dann kurz vor dem Verzweifeln irgendwann geschafft. Bei Mercedes begrüßt man uns mit der gewohnten chilenischen Liebenswürdigkeit und legt sofort fachmännisch mit Motor- und Getriebeölwechsel, Bremsprüfung und abschließender Autowäsche los. Der Geschäftstellenleiter mit deutschen Großeltern lädt uns mittags in die Betriebskantine ein und verabschiedet uns mit einer großen Tüte Walnüsse aus eigenem Garten.

Ich selbst bin nachmittags in der Clinica Alemana im Stadtteil Vitacura zu einem Routinecheck angemeldet und staune nicht schlecht. Ich hatte eine kleine Klinik vermutet, aber stattdessen erwartet mich eine topmoderne Klinik mit über 1.000 Ärzten. Für Expats und Reisende gibt es einen separaten Check-in, und nachdem die Formalitäten und die Bezahlung geklärt sind wird mir ein „Runner“ zur Seite gestellt, der mich auf meinen weiteren Wegen durch die Klinik begleitet. Was für ein Service! Da ich etwas zu früh bin und warten muß bietet mir der Runner an, mich ein wenig in den Klinikgebäuden herumzuführen. Er ist 19 Jahre alt, studiert Philosophie und Psychologie, jobbt nebenbei in der Klinik, spricht passables Englisch und hat Spaß daran, die Sprache mit Expats oder Reisenden zu üben. Nachdem wir über ein wenig über Freud´sche Traumdeutung und unsichtbare Gorillas geplänkelt haben nimmt er mich mit in das oberste Stockwerk des Gebäudes und zeigt mir von dort die Stadtteile Vitacura und El Golf, die teuersten Viertel der Hauptstadt. Was ich sehe, lässt mich staunen, denn mit dem gewohnten Klischee südamerikanischer Städte hat dies nichts mehr gemeinsam. Ich blicke auf elegante Villen mit englischem Rasen, Designerboutiquen mit wunderbar dekorierten Schaufenstern, riesige Multiplex-Kinos, verspiegelte Fassaden von großen Konsumtempeln, geschmackvoll gestaltete Ladengalerien und erlesene Restaurants. Ich könnte mich auch in Beverly Hills befinden. Recherchen ergeben; daß die Quadratmeterpreise in Vitacura und El Golf auf dem Niveau der Preise von Hamburg und München liegen. Auch den Deutschen Club, der hier sein gut bewachtes Domizil hinter hohen Mauern aufgeschlagen hat, kann ich in unmittelbarer Nähe der Klinik entdecken.

Mein Check wird von Luigi durchgeführt, einem älteren Arzt mit italienischen Vorfahren, der in den USA Medizin studiert hat und mit seiner Frau Europa intensiv bereist hat. Er teilt meine Begeisterung für Chile, findet aber, das Land läge leider zu sehr „hinter den Bergen“ und sei zu weit weg vom Weltgeschehen. Ich finde, das kann auch Vorteile haben… Der Check ist okay und ich fahre zurück zu Mercedes, wo mich Hugo und ein frisch gewaschener, blendend-weißer Unimoppel erwarten. Der Dampfstrahler hat Schmutz und Wüstenstaub der vergangenen Wochen entfernt und der Wagen ist jetzt stadtfein. Abends treffen wir uns mit DerNachbar zum Essen und verabschieden uns dann vorläufig. DerNachbar fliegt nach Puerto Montt vor und wir werden uns in einigen Tagen in Osorno wiedersehen, um gemeinsam von dort das Seengebiet zu bereisen.