Archiv für den Tag: 13. Januar 2015

Christmas on Ice

Wir haben auf den nun endgültig letzten Metern der Carretera Austral direkt am Anleger der Quetru übernachtet, da die Tour ins Eis frühmorgens startet; insgesamt wird sie zwölf Stunden dauern. Der Wind fegt in unverminderter Stärke wie ein eiskalter Föhn horizontal über den milchig-grünen langgezogenen Arm des Lago O´Higgins. Das kleine Schiff mit seinem spitzen hohen Bug macht einen robusten Eindruck und kämpft sich Stunde um Stunde wild hüpfend durch die Wellen.

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Außer der Besatzung sind rund zwanzig Personen an Bord; einige Touristen und ein paar Polizisten. In Candelario Mancilla setzen wir eine Handvoll Wanderer ab, die zu Fuß weiter nach El Chaitén zum Parque Nacional Los Glaciares in Argentinien gehen wollen, nehmen die vor Tagen gestrandeten und jetzt erleichtert aufatmenden Wanderer an Bord, und die mitgefahrenen Carabineros nehmen die Plätze ihrer Kollegen ein.

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Hinter einer großen Felsnase erreichen wir dann den offenen Teil des Lago O´Higgins und der Wind nimmt nochmals zu. Hier fegen die Winde mit ungebremster Geschwindigkeit vom südlichen Eisschild über die niedrigen Hügel und die Gletscher talwärts. Wütend peitschen sie über das Wasser, so als wollten sie Eindringlinge davon abhalten, tiefer in die Welt des Eises einzudringen. Trotz Wind und Kälte verlassen wir den schützenden Innenraum der Quetru und gehen an Deck, wo wir uns an der Reling gut festhalten müssen, um nicht umgepustet zu werden. Souverän steuert der Kapitän – schwarzer Sweater, Jeans, viele Lachfältchen um die wie blankpoliert wirkenden Augen, graues kurzes Haar – das Schiff in den etliche Kilometer breiten Arm, an dessen Ende sich die Front des O´Higgins Gletschers in den See schiebt.

Die ersten kleinen und größeren Eisberge tauchen vor uns auf. Von durchscheinendem Weiß-Blau und unbeschreiblich schön, treiben sie auf der Oberfläche, manche nur einfache Schollen, manche filigrane kleine Eispaläste mit bizarren Formen.

Vor uns können wir den Gletscher erkennen, der sich wie eine gewaltige weiße Schlange vom südlichen Eisschild in den See schiebt. Je weiter wir uns dem Gletscher nähern desto stärker wird der Wind. Er fällt in rasender Geschwindigkeit über den Gletscher hinab und bläst uns frontal so stark entgegen, daß man kaum Luft holen kann.

Die eiskalte Gischt spritzt an den Bordwänden der über die Wellen hüpfenden Quetru bis über die Reling empor. Meter um Meter kämpft sich der Kapitän gegen den Wind näher an die Gletscherwand. Immer wieder nimmt er sein Fernglas zur Hand und beobachtet sehr genau die sich vor uns auftürmende über drei Kilometer breite und siebzig Meter hohe Wand aus Eis. Er fährt bis in ihren Windschatten, wo das Wasser fast still ist und der Wind schlagartig verstummt, so als hätte jemand einen eisigen Fön abgeschaltet. Wir sind keine siebzig Meter von der Gletscherfront entfernt, blicken an ihr hoch, haben das Gefühl, nur den Arm ausstrecken zu müssen um sie zu berühren. Es ist unbeschreiblich.

Der Himmel ist bedeckt und grau, aber selbst das wenige Licht mindert nicht das weiß-blaue  Farbenspiel des Eises. Es sieht aus, als würde der Geltscher von innen beleuchtet werden.

Wir fahren über Stunden immer wieder die Front entlang, aber die Zeit fliegt. Dann steigen zwei Besatzungsmitglieder zwar mit Schwimmweste, aber ohne vor der Kälte schützenden Überlebensanzug in ein Zodiac, um von einem treibenden Eisberg einige Stückchen abzuschlagen und an Bord zu bringen.

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Ein fragwürdiges Unterfangen, da gefährlich, aber es ist Heiligabend … da passiert schon nichts.

Die viele tausend Jahre alten Eiswürfel bekommen wir dann mit einem üppigen Schluck Whisky serviert, bevor der Kapitän beidreht und die Rückfahrt beginnt.

Kaum sind wir aus dem Windschatten des Gletschers, geht der wilde Tanz auf den Wellen erneut los, aber wir sind zum Glück seefest. Wir sind randvoll mit unbeschreiblichen Eindrücken, die sich nicht in Worte fassen lassen. Spätestens jetzt ist klar, daß sich eine ganz große Patagonia Love Story anbahnt, die durch nichts mehr aufzuhalten ist. Es hat uns restlos gepackt.

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Der letzte Meter

Die Piste zeigt mehr und mehr die Konsistenz eines Schweizer Käses, Schlagloch reiht sich an Schlagloch und das Fahren gleicht mehr einem Springen, aber das Panorama bleibt auch während der nächsten Stunden zum Staunen: Auf der einen Seite schimmert – auch bei bedecktem Himmel- türkisfarben der See Carrera auf der anderen Seite liegen die verschneiten Gipfel, die Straße dazwischen führt durch Wiesen, Wälder und gelbe Lupinen.

Bei Puerto Bertrand erreichen wir den Beginn des Rio Baker, der als wasserreichster Fluß Chiles und potenzielle Energiequelle gilt und damit seit einigen Jahren landesweit für erhitzte Gemüter und heftige Dispute sorgt.

Der internationale Energiemulti Endesa plant gemeinsam mit dem chilenischen Kraftwerksbetreiber Colbún vier große Staudämme, wobei die Täler rund um den Rio Baker und den kleineren Rio Pascua, insgesamt 6000 Hektar, geflutet werden sollen. Die Industrie, insbesondere die großen Minen des Landes und die dichtbesiedelte Zentralregion rund um Santiago, benötigen Energie, viel Energie. Einwohner und Umweltschützer torpedieren das Rio Baker-Projekt, da eine der großartigsten und unberührtesten Landschaften Patagoniens unter Wasser gesetzt würden und für die Stromtrasse eine gewaltige Schneise durch das Land getrieben werden müsste. Vielleicht sollte man mal einen Blick weit in den Norden des Landes werfen, in die menschenleere und lebensfeindliche Öde der Atacama. Dort gibt es jede Menge Platz und Sonne genug, um Solarfelder aufzustellen. Der ökologische Schaden wäre weitaus geringer.

Wir folgen dem Lauf des Rio Baker, der breit und grün durch Wald, Wiesen, felsige Canyons und später die braune Steppe rauscht. Das kleine, blitzsaubere Cochrane mit seinen rund 4.000 Einwohnern ist die letzte größere Siedlung an der Carretera Austral. Als wir in den Ort hineinfahren entdecken wir auf den Hügeln einen Touch von Hollywood: Was nicht ist kann ja noch werden, oder?

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Die meisten Patagonienbesucher kehren spätestens hier um, aber für uns geht es noch 233 Kilometer weiter nach Süden, denn wir möchten die Carretera wirklich bis zum allerletzten Meter fahren. Im Dorf decken wir uns in der fruteria mit frischem Obst und Gemüse ein, im mercado mit Milch, Brot und Käse. Dann zapfen wir das lokale Internet an und ich stelle auf facebook fest, daß eine Bekannte, Anette, mit ihrem Mann ebenfalls in Patagonien unterwegs ist. Selbstverständlich, daß wir sie über facebook anmorsen… vielleicht klappt ja irgendwo auf der Route ein spontanes Treffen?

Das letzte Stück der Carretera wurde erst nach 1994 gebaut bzw. vielmehr durch den dichten Urwald geschlagen und geschoben. Die Arbeiten müssen unvorstellbar anstrengend gewesen sein. Die unbefestigte einspurige Schotterpiste führt an Hochmooren und Sümpfen vorbei und die kurvenreiche Strecke gibt immer wieder wunderbare Ausblicke auf den nördlichen Eisschild und über weite unberührte Täler frei.

Tortel, einen kleiner Ort westlich der Carretera und nahe der Mündung des Rio Baker ins Meer, heben wir uns für die Rückfahrt auf, denn wir möchten Weihnachten in Villa O´Higgins, unserer „Endstation Sehnsucht“ sein. In Puerto Yungay – drei Häuser und eine Rampe – setzt uns eine kleine Fähre über den Fjord in gut dreißig Minuten nach Rio Bravo über – drei Häuser und eine Rampe.

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Auf der verbleibenden Strecke von 100 Kilometern fahren wir durch große Bambuswälder, sehen schön gezeichnete Wildgänse und erhaschen immer wieder Ausblicke auf das hier beginnende südliche patagonische Eisfeld und seine Gletscher.

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Dann erreichen wir das kleine Villa O´Higgins, den einsamen Posten in der patagonischen Wildnis mit 500 Einwohnern, und die teuerste Tankstelle Chiles: Der Diesel ist hier gute 30% teuer als im restlichen Chile, aber kein Wunder, muß doch jeder kostbare Tropfen den weiten Weg umständlich hertransportiert werden. Unsere großen Tanks sind zum Glück noch gut gefüllt 🙂

An der schön gestalteten Plaza zapfen wir wieder das staatlich geförderte Internet an und erfahren auf facebook, daß Anette und ihr Mann inzwischen in … Tortel sind, von dort nach Puerto Guadal am südlichen Ufer des Lago Carrera und anschließend zwecks Weiterflug nach Buenos Aires nach Coyhaique fahren. Knapp vorbei ist auch daneben, aber da wir auch nach Coyhaique zurück müssen, um unsere Ersatzteile bei Mercedes abzuholen, haben wir vielleicht noch eine Chance, sie dort zu treffen.

In Villa O´Higgins hat sich seit der Anbindung an die Carretera 1999 eine bescheidene touristische Infrastruktur entwickelt, da das Umland einiges zu bieten hat. Meist finden sich in diesem Nest Wanderer und Backpacker aus aller Herren Länder ein, und manchmal stranden sie geradezu, da nur sporadisch ein Bus fährt. Wir werden mehrfach um Mitfahrgelegenheit gebeten, da wir aber noch einige Tage hier verbringen möchten können wir spontan nicht wirklich helfen.

Die „Saison“ beginnt erst im Januar, daher ist noch nicht viel los. Eines Mittags suchen wir eines der winzigen Restaurants auf, nicht mehr als ein 20 qm großer wintergartenähnlicher Anbau am Wohnhaus der Familie. Wackelige Holztische und –stühle, mit selbstgehäkelten Deckchen und Lammfellen liebevoll dekoriert, ein Sammelsurium von Nippes auf den Fensterbänken und Simsen. Wir haben das Gefühl, bei unseren Großeltern im Wohnzimmer zu sitzen. Draußen pfeift der Wind so stark, daß das Gebälk des klapprigen Anbaus knirscht und kracht. Wir befürchten schon, mit ihm gemeinsam abzuheben. Da wir die einzigen Gäste sind und noch dazu aus Alemana ist uns die ungeteilte Aufmerksamkeit des gesamten Personals – Papa, Mama, Sohn – sicher. Es herrscht strikte Arbeitsteilung: Mama kocht nebenan, Papa macht den Service – formvollendet wie in einem Sternerestaurant – und der Sohnemann im Teenageralter schaut zu wie´s geht. Auswahl gibt es allerdings keine, es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. In diesem Fall eine geschmorte Hähnchenkeule und eine Portion Kartoffelbrei, von der selbst Rainer Kalmund pappsatt geworden wäre. Als Nachtisch bietet uns das symphatische Trio Obst aus der Dose an, welches wir dankend ablehnen, aber dann zaubern die Drei vom Bäcker frischen Zitronenkuchen herbei und mit unserer Standhaftigkeit ist es vorbei.

Die Carretera Austral endet sieben Kilometer hinter O´Higgins am gleichnamigen See, aber wir wollen noch ein Stückchen weiter, auch wenn es mit dem Wagen nicht geht, und so buchen wir für montags eine Tour auf der Quetru. Mehrmals wöchentlich fährt das kleine Kabinenschiff für maximal 50 Passagiere über den See, zunächst nach Candelario Mancilla, der letzten einsam gelegenen chilenischen Polizeistation zwecks Grenzbewachung, und dann weiter zum O´Higgins Gletscher, der sich vom südlichen Eisschild in den See schiebt. Er ist unser Ziel.

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Am Montag hat der Wind kein bisschen nachgelassen, sondern bläst noch immer mit unverminderten zehn Windstärken. Das Schiff fährt nicht. Am Dienstag auch nicht. Am Mittwoch hat der Wind zwar immer noch keinen Deut nachgegeben, aber das Schiff fährt trotzdem. Muß fahren, denn in Candelario Mancilla hängen seit drei Tagen einige Wanderer fest und außerdem ist zu Weihnachten an dem Polizeiposten Wachablösung vorgesehen. Wir stellen uns auf einen schaukeligen Heiligabend ein.

Pretty in Pink

Diese Disteln am Rand der Straße sind gut 1,5 Meter hoch und tragen Blüten so groß wie eine Männerfaust:

Nasse Füße

Da wir Seitensprünge lieben biegen wir bei Puerto Tranquilo erneut von der Carretera auf eine Schotterpiste ab, die knapp 80 Kilometer nach Westen zur Bahia Exploradores führt. Die Route führt am nördlichen Rand des patagonischen Eisfeldes entlang, geschützt durch das 4.000 Meter hohe Massiv des Monte Valentin, durch das enge Valle Exploradores, welches erst 1930 von dem deutschen Forscher August Grosse entdeckt wurde. Die Fahrt durch das Tal ist eines der schönsten und beeindruckendsten Erlebnisse unserer Reise.

Das pazifisch-feuchte Klima lässt den Wald hier wuchern, das Dickicht aus Farnen, Nalca und Schlingpflanzen ist undurchdringlich, an den Steilhängen stürzen Wasserfälle Hunderte Meter hinab und der grün schimmernde Rio Bayo windet sich dicht entlang der Straße.

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Hoch über der Straße hängen die Zungen blau-weiß schimmernde Gletscher des Eisfeldes über, der größte von ihnen ist der Grosse-Gletscher, der sich als gigantische Schlange vom Eisschild herabschiebt.

Wo das Tal offener wird ist die Piste von dicken Büschen gelb blühender Lupinen gesäumt. Die Piste ist zum überwiegenden Teil aus Kies aufgeschoben, teilweise bis weit über einen Meter hoch, und ihre Seiten sind unbefestigt. Hier abzurutschen hätte üble Folgen.

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Dann endet sie nach knapp 80 Kilometern abrupt am Rio Exploradores. Eine Brücke auf die andere Seite ist seit Jahren in Planung, um einen direkten Zugang zur Bahia Exploradores zu schaffen, aber wann sie gebaut wird steht nicht fest. Vom vorläufigen Endpunkt aus kann man – vorausgesetzt, daß Wetter ist gut – mit kleinen Booten einen zwölf bis vierzehn Stunden dauernden und über den Estero Elefantes führenden Ausflug zum San Rafael Gletscher westlich des Eisschildes machen. Genau das ist unser Plan, aber das Wetter spielt nicht mit. Es ist viel zu windig, um mit einem Schlauchboot rauszufahren, und der Himmel ist eine geschlossene graue Wolkendecke, also müssen wir den Plan kippen. Allzu enttäuscht sind wir nicht: Es gibt in Patagonien ja zum Glück noch reichlich andere große Gletscher.

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Wir finden einen einsamen Nachtplatz auf einem Kiesbett des Rio Bayo. Über Nacht werden die Wolken zu schwer und laden ihre nasse Last ab; Regentropfen trommeln ihr Stakkato ohne Unterlaß laut auf unser Dach. Es kommt wie es kommen muß. Als wir am nächsten Morgen aus dem Fenster schauen staunen wir nicht schlecht: Wir stehen auf einer Insel und der Unimog mit den Füßen bereits im Wasser. Da es noch immer wie aus Kübeln gießt parken wir schleunigst den Wagen auf höheres Gelände am Ufer und widmen uns erst dann dem Frühstück. Zwei Stunden später ist die Kiesbank ganz verschwunden. Der Rio Bayo hat seine Größe mehr als verdoppelt und auch seine Fließgeschwindigkeit hat deutlich zugenommen. Der oft schon gelesene Satz „Der Fluß hatte sich über Nacht in einen reißenden Strom verwandelt“, hat hier für uns eine sehr konkrete Bedeutung erhalten.

Über Nacht sind Hunderte neuer Kaskaden hinzugekommen, die ihre rauschenden Wassermassen die Felsen hinab jetzt bis auf die Piste ergiessen, so daß unser Wagen ab und an unfreiwillig eine eiskalte Dusche erhält.

Die Piste selbst hat sich in braunen schmierigen Matsch verwandelt und die Fahrt kommt einer Schlammschlacht gleich. An den Seiten der Piste steht dort, wo gestern noch Wiesen waren, jetzt hoch das Wasser und die Piste liegt nur noch ein kleines Stück höher.

Kurz bevor wir wieder Puerto Tranquilo am Westufer des Lago General Carrera erreichen sehen wir einen typischen patagonischen Friedhof. Hier baut man den Verabschiedeten kleine Häuser mit Haustür und Fenstern aus Glas, die häufig sogar mit Gardinen ausgestattet werden.

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Hier am Westufer des Sees liegen die Capillas de Mármol, bizarre Felsformationen in Ufernähe, die mit kleinen Booten besichtigt werden können, aber wir verschieben die Tour auf den Rückweg, denn ein Blick in den Himmel verheißt nichts Gutes.

Entlang des Lago General Carrera

Wir folgen über die asphaltierte Straße dem Lauf des Rio Simpson, einem der schönsten Flüsse der Region, wie wir finden. Er schlängelt sich durch schmale Canyons, ist an den Ufern dicht mit Blumen bewachsen und sein Wasser springt schäumend über kleine Stromschnellen. Wir fahren durch Wälder, entlang sumpfiger Lagunen und durch Moorlandschaften, dann windet sich der Paß Portezuelo Ibanez in engen Serpentinen bis auf 1.100 Meter Höhe. Das Panorama ist atemberaubend und die schroff gezackten Gipfel des Bergmassivs Cerro Castillo, welches ein weites Tal umschließt, begleiten uns für eine ganze Weile.

Dann verlassen wir die Carretera Austral, um einen Abstecher nach Puerto Ibanez am Nordufer des Lago General Carrera zu machen. Der blaugrüne See leuchtet uns unter wolkenlosem Himmel schon von Weitem entgegen. Kein Diamant der Welt könnte schöner funkeln. Er ist der größte See Chiles und nach dem Titicacasee der zweitgrößte See Südamerikas. Der östliche, kleinere Teil gehört zu Argentinien, liegt bereits im noch bewaldeten Flachland, welches dann kurz darauf in die aride Pampa übergeht, und ist ein bevorzugtes Anbaugebiet von Kirschen. Allein der von West nach Ost verlaufende Hauptarm des Sees hat eine Länge von 180 Kilometern. Das Mikroklima hier ist im Vergleich zum restlichen Patagonien deutlich sonniger und trockener, da die Region durch das nordpatagonische Eisfeld und die bis über 4.000 Meter hohen Gipfel des Monte San Valentin und Cerro Nyades im Westen von den kalten pazifischen Winden und Regenfronten abgeschirmt wird.

Wir entscheiden uns, für den Rückweg zur Carretera Austral eine Piste zu nehmen, die durch ein sehr abgeschiedenes Tal führt. Puerto Ibanez werden wir wiedersehen, denn auf unserer Rückkehr aus dem tiefen Süden werden wir von Chile Chico aus mit der Fähre hierher übersetzen.

Wir fahren knapp sechzig Kilometer durch ein Tal, das einsamer und verwunschener nicht sein könnte. Vergessen vom Rest der Welt wurden hier bis heute nicht einmal Strom- oder Telefonleitungen verlegt und die wenigen kleinen Farmen bedienen sich alter Generatoren, die Fortschrittlicheren haben ein paar Solarzellen vor dem Haus oder neben der Scheune aufgestellt. Die Fenster der oft schiefen, über viele Jahrzehnte verwitterten Holzhäuschen sind mit weißen Spitzengardinen geschmückt. Auf dem Gelände stehen mit Schutzfolie überzogene Treibhäuser oder Gewächshäuser aus Glas. So wie es ausschaut, leben hier Farmer, die ausschließlich für die Selbstversorgung anbauen. Wir passieren die wunderschönen Wasserfälle des Rio Ibanez, treffen in einem Wald auf ein paar Wildpferde, kommen an einsamen kleinen Seen vorbei.

Da die Piste ist in schlechtem Zustand ist läßt Hugo Luft aus den Reifen, um das stundenlange Fahren etwas komfortabler zu machen..

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Niemand begegnet uns, niemand folgt uns, bis wir Stunden später wieder die Carretera erreichen, die kurz darauf von Asphalt zu Schotter wechselt. Die Landschaft ändert sich augenfällig. 1991 brach der nordwestlich gelegene Vulkan Hudson aus und ließ auf weite Teile der Region tagelang Asche regnen. Infolgedessen starben viele Wälder ab und bis heute ragen die toten Stämme aus grauen Hängen gespenstisch in den Himmel.

Am späten Nachmittag finden wir einen Stellplatz, der schöner nicht liegen könnte:

Huemules

Wir haben großes Glück, als wir auf unserer Weiterfahrt an einem Bachlauf zwei der vom Aussterben bedrohten Huemules, der großen Andenhirsche, entdecken:

Castor und Pollux

Genau, die Namen kennt jeder. Aber wer waren die Beiden doch gleich? Die von der Wölfin gesäugten Gründer Roms? Das waren Romulus und Remus. Die beiden Dobermänner von Higgins und Magnum? Auch nicht, die hießen Zeus und Apollo, wenn ich mich recht erinnere.

Wir statten Castor und Pollux jedenfalls spontan einen Besuch ab und fahren zu den beiden gleichnamigen abgeschiedenen Bergseen kurz vor dem argentinischen Grenzverlauf. Die Landschaft ist sanft hügelig und erinnert mit ihren Gruppen von hohen Pappeln ein wenig an Oberitalien. In der Ferne sind die weißen Gipfel der höheren Berge zu sehen. Die wenigen Schaffarmen, die verstreut in den Hügel liegen, sind aus verwittertem Holz, windschief und scheinen uralt zu sein.

Still und geheimnisvoll liegen die beiden Seen inmitten grüner Wiesen und Wälder. Die Sonne scheint, die Luft ist mild und die Stille wohltuend. Hugo nutzt die guten Konditionen für einen kurzen Flug mit dem Gleitschirm und sieht auf dem Rückweg zum Wagen ein schwarz-weißes Stinktier. Abends verfärbt sich der Himmel in allen Nuancen von orange bis violett.

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Coyhaique

Für einen Moment drehen wir die Zeit zurück – im Blog können wir das 🙂 – und sind wieder in der Zeit kurz vor Weihnachten. Das Internet hier in Patagonien ist, wenn überhaupt verfügbar, anorexisch. Die chilenische Regierung hat auf den Plazas in den abgelegenen Ortschaften zwar kostenlose Hotspots eingerichtet, aber jedes Bit wird einzeln durchgeschoben und nach maximal einer halben Stunde fliegt man automatisch aus dem Netz. Wir kommen deshalb mit dem Bloggen nicht nach.

Wir sind in Coyhaique angekommen, dem „Land zwischen den Wassern“. Hier fließen der Rio Simpson und der Rio Coyhaique zusammen und die indianischen Ureinwohner nannten das Land entsprechend „Koi-Aike“. Die Stadt ist die Hauptstadt der Region Aysén, der mit 0,9 Einwohnern pro Quadratkilometer am dünnsten besiedeltsten Region Chiles. Die Region Aysén verfügt laut Volkszählung 2012 insgesamt über 108.494 Einwohner, wovon etwas über 50.000, also knapp die Hälfte, in Coyhaique leben. Weitere 30.000 leben in der Stadt Puerto Aysén. Zieht man diese von der Gesamtzahl mal ab, dann bekommt man eine ungefähre Vorstellung davon, wie dünn der Rest der Region Aysén, die immerhin einen Flächenanteil von 14,3% an Chile hat, besiedelt ist. Zum Vergleich: Die Hauptstadtregion Santiago de Chile hat einen Flächenanteil von 2% und eine Bevölkerungsdichte von 434 Einwohnern pro Quadratkilometer. Deutschland hat eine Bevölkerungsdichte von 226,9 Einwohnern pro Quadratkilometer und liegt damit weltweit auf Platz 17, Chile auf Platz 67. Auf den Plätzen 1 bis 3 liegen übrigens Monaco, Singapore und Hongkong.

Wir schauen im Ort zunächst bei Mercedes Kaufmann vorbei. Unsere Ersatzteile aus Deutschland für die Heizung sind noch nicht eingetroffen, sondern liegen vermutlich noch irgendwo beim Zoll, aber wir müssen auch am linken Vorderrad die Dichtung für das Portalgetriebe austauschen lassen, da dieses Öl leckt. Die Werkstatt ist zwar etwas kleiner als die bisherigen, die wir im Laufe der Reise aufgesucht haben, aber der Kaufmann-Service ist wie gewohnt außerordentlich gut.

Auch wenn Coyhaique das wirtschaftliche Zentrum der gesamten südlichen Carretera Austral ist, so vermittelt der Ort einen beschaulichen, eher dörflichen Eindruck. Es gibt einige bescheidene Geschäfte und Restaurants, ein Kino und eine schöne, mit großen Bäumen bestandene fünfeckige Plaza im Zentrum. Als wir samstags dort auf einer Bank sitzen versammeln sich plötzlich Hunderte Menschen im Halbkreis um eine Bühne, wo sich schon ein kleines Orchester in festlicher Kleidung zusammengefunden hat. Wir denken zunächst, es ist eine vorweihnachtliche Aufführung, vielleicht von einer Schule. Weit gefehlt: Eine Wanderpredigerin der Methodisten-Pfingstkirche in leuchtend pinkfarbenem und reich besticktem Gewand tritt auf. Mit schöner, alles durchdringender Stimme schmettert sie, von Chor und Orchester begleitet, gute zwei Stunden lang ihre Weisheiten in Form von Liedern und Predigten in die Runde. Die Show – eine Mischung aus blumigsten Verheißungen des Paradieses und blutrünstigsten Androhungen von Fegefeuer und Hölle untermalt mit melodischen lateinamerikanischen Rhythmen – stimmt; die Menge lauscht gebannt, klatscht, singt mit, jubelt ihr zu, macht Fotos und Filme mit dem Handy.

Nachdem wir das übliche Pflichtprogramm erledigt und einen Supermarkt, Geldautomat und eine Wäscherei angesteuert haben, fahren wir in den mit Südbuchen und Kiefern bewachsenen Nationalpark Coyhaique, und übernachten an der Laguna Verde, einem kleinen See, den man in einer Dreiviertelstunde umlaufen kann.