Archiv für den Tag: 9. Dezember 2014

Alles Asche

Es ist früher Morgen, als wir mit der Don Baldo in Chaitén ankommen. Der Himmel auf dem Festland ist mit dicken grauen Wolken bedeckt, aber die weiße Rauchfahne des gleichnamigen Vulkans über dem Örtchen ist unübersehbar. Nonstop dampft und brodelt der Vulkan warnend vor sich hin.

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Am 2ten Mai 2008 bebte um 0.30 Uhr die Erde, dann folgte eine gewaltige Explosion. Die Einwohner von Chaitén ahnten nicht, daß dies den sprichwörtlichen Anfang vom Ende ihrer kleinen Stadt markierte. Sie nahmen an, daß der Vulkan Michinmahuida in 35 Kilometer Entfernung ausgebrochen war. Kurz darauf stellte sich jedoch mit Schrecken heraus, daß der Vulkan Chaitén, nur 1.100 Meter hoch und in nur zehn Kilometer Entfernung vom Dorf gelegen, entgegen aller Prognosen ausgebrochen war. Bewohner wie Vulkanologen waren von der Wucht des Ausbruchs gleichermaßen völlig überrascht, denn der Kegel galt als seit Jahrtausenden erloschen, so wie Hunderte anderer Vulkane in Chile.

Zunächst wehte eine tödliche Gasblase in Schneisen talabwärts, so daß der Wald auf großen Flächen starb, dann schleuderte der Vulkan Asche in einer enormen Rauchsäule bis auf 20 Kilometer Höhe. Chaitén wurde binnen eines einzigen Tages von zwanzig Zentimetern Asche bedeckt, woraufhin die Regierung in einer Blitzaktion rund 7000 Einwohner im Umkreis von 50 Kilometern evakuierte. Tausende Tiere mussten auf den Weiden ihrem Schicksal überlassen werden und verendeten. Dann trat der Rio Blanco, der unterhalb des Vulkans entspringt, über die Ufer und überschwemmte das Gebiet mit einer dicken Decke aus Geröll und Schlamm. 40% der bebauten Fläche von Chaitén wurde vollständig zerstört.

Die Spuren der Verwüstung sieht man heute noch deutlich, aber man sieht auch, wie sich die Natur langsam erholt. Großblättrige Nalca-Pflanzen und Farne bedecken schon die dicke Ascheschicht auf dem Boden rund um die abgestorbenen, gespenstisch wirkenden Stämme der einstigen Urwaldbäume und bringen Grün in die graue Ödnis.

Trotz der latent stets drohenden Gefahr über ihren Köpfen haben sich die Bewohner schon nach wenigen Monaten entschlossen, ihr altes Chaitén wieder aufzubauen. Sie befreiten die Straßen von der Asche, setzen ihre Häuser in Stand, versorgten sich mit Strom aus dem Generator und versuchten, ihr Leben so gut es ging in die Normalität gleiten zu lassen. Es scheint zu funktionieren. Die Menschen, die vor dem Ausbruch hier lebten und jetzt wieder leben müssen entweder Fatalisten oder Meisterverdränger sein.

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Wir sind von der kurzen Nacht auf der Fähre müde und schlafen erst einmal eine Runde, bevor wir in den Parque Nacional Pumalin weiterfahren. In der zweiten Nacht, die wir dann in der Einsamkeit des Parks verbringen, bebt die Erde. Ein leichtes Zittern, das vier, fünf mal unter dem Wagen durch den Boden läuft, nicht stark, aber doch so daß man davon aufwacht. In Chile hatten wir dies schon öfter erlebt und uns langsam damit „angefreundet“, aber es ist etwas völlig anderes, wenn man in stockfinsterer Nacht direkt zu Füßen eines sichtlich nervösen Vulkans nur sechshundert Meter über dem Kopf steht, auf vielen Kilometern keine Menschenseele weit und breit, keine Möglichkeit sich zu informieren. Für einen Moment überkommt einen ein beklemmendes Gefühl des Ausgeliefertseins. Jetzt am besten noch einen Krimi lesen, in dem ein blutrünstiger Axtmörder in Patagonien sein Unwesen treibt, und … gute Nacht.

Hugo´s Happy Meal

Apple Pancakes vom Fließband…

Carretera Austral

Vor uns liegen 1.200 Kilometer Wildnis. Viele sagen, die Carretera Austral ist die schönste Route in die Einsamkeit. Für uns ein Highlight unserer Reise und wir sind gespannt, was uns in den kommenden Wochen erwartet, ob unsere durch Literatur und Dokumentationen geschürten Erwartungen erfüllt oder enttäuscht werden. 1.200 Kilometer bis Villa O´Higgins am Ende der Carretera, und dann sind wir noch lange nicht am Ende dieses Kontinents. Südlich von Puerto Montt beginnt das chilenische Patagonien, das Gebiet der Gletscher, der kalten Regenwälder und des großen Inlandeises, des Campo de Hielo de San Valentin, des Campo de Hielo Norte und des Campo de Hielo Sur.

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Erst während der Pinochet-Diktatur wurde diese abgeschiedene Region an das übrige Chile angebunden; davor lebten die wenigen indianischen Einheimischen autark, vom Fisch- und Robbenfang in den Fjorden und im Einklang mit der Natur. Die ersten Europäer kamen Mitte des 16ten Jahrhunderts, wobei das Interesse nur sporadisch war. Charles Darwin und sein Capitän Fitz Roy segelten mit der Beagle 1834 die patagonische Küste entlang, einige chilenische Expeditionen folgten, um das Land zu kartographieren und der Deutsche Hans Steffen erforschte von 1870 bis 1902 intensiv den Süden. Bis ins zwanzigste Jahrhundert kam die Region über kleine Handelsstationen für Holz und Robbenfelle nicht hinaus. Dann erhielt die Sociedad Industrial de Aysén 800.000 Hektar Land zwecks Erschließung, parzellierte dieses und verkaufte es wiederum an chilenische und argentinische Familien, die profitorientiert auf erfolgreiche Viehzucht spekulierten. Was folgte, war eine großflächige Abholzung der bis dahin unberührten Waldbestände. Chiles Regierung unterstützte diese Maßnahmen mit einem Gesetz, welches besagte, daß „ nur Land dann in endgültigen Besitz übergehe, das gänzlich vom Urwald befreit wurde“. Infolgedessen wurden mit Großfeuern allein in den 1940er Jahren Urwaldflächen von der Größe Nordrhein-Westfalens vernichtet.

Über weitere Jahrzehnte blieb die Region weitgehend isoliert, bis in den 1970er Jahren Augusto Pinochet aus überwiegend militärischen Gründen den Auftrag für die Ruta 7, die Carretera Longitudinal Austral Presidente Pinochet gab, kurz die Carretera Austral. Das Militär fräste eine Piste durch die Wildnis, die Berge in Serpentinen hinaufklettert, sich an Fjorden entlang schlängelt, durch den Urwald, Sumpfgebiete, Weideland und entlang Wildwasserflüßen führt. Auch wenn das Gebiet längst nicht mehr so abgeschieden wie vor einhundert Jahren ist, hier ist das Wetter immer noch der alles entscheidende Faktor. Verspätete Fähren, Überflutungen und die Piste blockierende Erdrutsche gehören zum Alltag.

Wir werden sehen, welche Überraschungen die Carretera Austral für uns bereit hält.

Chiloé

Die Farbe des Himmels ändert sich alle paar Minuten. Das strahlende Blau, gerade noch vom Wind völlig wolkenfrei gefegt, wird urplötzlich von großen, tief über den Hügeln hängenden, Regenwolken verdunkelt. Sicherheitshalber kramen wir – erstmals auf dieser Reise – unsere Regenjacken raus. Das kann nur bedeuten, daß wir auf Chiloé angekommen sind, der Insel, von der Charles Darwin in seiner Beagle-Dokumentation behauptete, ihr Klima sei „schaudervoll“. Ganz so schlimm ist es nicht, aber mit Regen müssen wir auf unserer weiteren Reise durch Patagonien jetzt wohl häufiger rechnen.

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Der Archipel südlich von Puerto Montt besteht aus rund vierzig kleinen Inseln und der Hauptinsel, die ca. 180 km lang und 50 km breit und nach Feuerland damit die zweitgrößte Insel Südamerikas ist. Wir sind mit einer kleinen RoRo-Fähre über den Canal de Chacao angekommen und beschließen, zunächst den Nordteil der Insel zu erkunden, bevor wir weiter zur Inselhauptstadt Castro fahren. Die Überfahrt vom Festland hat inklusive der Fahrzeug-Verladung rund zwanzig Minuten gedauert. Seit einiger Zeit gibt es Pläne, eine 2600 Meter lange Brücke über den Canal de Chacao zu bauen, aber bisher scheitert das Vorhaben am heftigen Widerstand der Chiloten, die ihre jahrhundertelange Abgeschiedenheit nicht gerne aufgeben möchten.

Aufgrund der Isoliertheit der Insel konnten vielfältige Traditionen und Mythen entstehen, die auch heute in perfekter Symbiose mit Kirche, Telefon, TV und Internet im Alltag der Menschen weiterleben. Auch die Jesuiten, die um 1600 die Kolonialisierung der Insel mit ihrer gewohnt sanften Hartnäckigkeit betrieben, und die pragmatischen deutschen Siedler, die später kamen, änderten nichts an der Tatsache, daß die Chiloten weiterhin an Hexen, Geisterschiffe, Feen und Zauberer glaubten, die in den Wäldern lebten, darunter der trauco, ein kleiner Troll, der gerne jungen Mädchen nachstellt. Die Menschen hier begegnen uns auch etwas anders als ihre chilenischen Mitbürger vom Festland: Sie sind zwar gleichermaßen freundlich, aber etwas weniger mitteilsam. Außerdem sind sie die Ruhe in Person, denn hier gilt das Sprichwort „Wer sich beeilt, verliert Zeit“.

Wir fahren nach Ancud ganz im Norden der Insel, mit knapp 40.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt auf der Hauptinsel und von den Spaniern 1767 als Verteidigungs- und Versorgungsposten für die Kap-Hoorn-Segler angelegt. Die Bebauung aus Holzhäuschen rund um die zentrale Plaza und den Hafen ist eng und verwinkelt, so daß wir mit dem Unimog ziemlich rangieren müssen. Wir fahren weiter zur Halbinsel Lacuy, wo man frische Austern essen kann, und schon bald geht die bisher geteerte Straße in eine Schotterpiste über. Auf kleinen Inseln vor der Küste von Punihuil nisten während der Sommermonate mehrere Kolonien von Magellan– und Humboldt-Pinguinen und wir beobachten vom flachen Sandstrand aus, wie einige Touristen aus einem kleinen Fischerboot ausgebootet und mit einem großrädrigen Karren mit dicker Gummibereifung trockenen Fußes durch das seichte Wasser zurück ans Land gebracht werden.

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Ohne konkretes Ziel fahren wir die Piste weiter und gelangen zu einem Platz hoch über einer wunderschönen Bucht. Die sanfte Hügellandschaft mit ihren sattgrünen, mit bunten Frühlingsblumen übersäten Wiesen erinnert ein bisschen an Irland, die Kühe und Schafe grasen auf Weiden, die bis zu den Stränden hinunter reichen, bizarr geformte Bäume signalisieren eindeutig die vorherrschende Windrichtung und das Meer glitzert in einem karibischen Türkisblau. Bei Sonne scheint die Insel geradezu zu leuchten. Spontan beschließen wir, hier ein bisschen zu bleiben.

Als es entlang der Küste nicht mehr weiter geht nehmen wir wieder Kurs auf die PanAm und fahren zur Inselhauptstadt Castro, die berühmt für ihre bunten palafitos entlang der Wasserfront und ihre alte, lila-gelb angemalte Holzkirche ist. Die dünnwandigen Pfahlbauten sind zum Wasser hin auf Stelzen gebaut, so daß die Fischer bei Flut mit ihren Booten direkt unter ihre Häusern fahren konnten. Bei Ebbe fällt der Strand unter den Häusern trocken. Immer schon mehrheitlich das Zuhause der ärmeren Bevölkerung waren die palafitos eine lange Zeit dem Verfall preisgegeben, bevor ihr touristisches Potenzial erkannt wurde. Retro ist chic. Vorausschauende Unternehmer und trendbewußte Architekten haben inzwischen einige von ihnen zu kleinen Hotels und Restaurants umgebaut.

Castro ist nicht nur ein Ziel von Backpackern und Reisenden wie wir, sondern wird auch von vielen Kreuzfahrtschiffen während der Sommermonate angelaufen, die gerne ihr Geld für ein typisch chilotisches curanto ausgeben, dem Inselgericht aus. Ursprünglich legte man heiße Steine in ein Erdloch, schichtete Meeresfrüchte, Fleisch, Huhn, Wurst und Gemüse darauf und deckte darüber die großen Blätter der Nalca-Pflanze. Anschließend ließ man das Ganze zwei Stunden schmoren. Heute stammt das curanto, welches in den Restaurants serviert wird, aus großen Schmortöpfen.

Der gaumenverwöhnte DerNachbar, der Chiloé bereits vor uns besucht hat, hatte uns noch einen Gourmet-Tipp für Castro gegeben: das Café Ristretto, und wir werden nicht enttäuscht. Entgegen des in Chile sonst üblichen Nescafé in Tütchen bekommt man hier einen echten Cappuccino serviert. Mit Milch aufgeschäumt, so wie er sein soll. Auch wenn es geschmacklich nicht wirklich passt, wir gönnen uns dazu eine Pizza, satt belegt mit Sardellen und Kapern bzw. Schinken und Champignons. Als dann noch das Internet langsam, aber ansonsten anstandslos funktioniert, sind wir glücklich.

Von Castro aus kreuzen wir noch ein paar Tage über die Insel und besuchen den Parque Nacional Chiloé an der Westküste, rund sechzig Kilometer von Castro entfernt. Die Fahrt führt an den malerischen, dicht bis an die Ufer bewachsenen Seen Huillinco und Cucao vorbei. Der Park selbst wurde 1982 eingerichtet, schützt auf einer Fläche von mehr als 43.000 Hektar undurchdringlichen Urwald mit Jahrhunderte alten Alercen, Laub- und Nadelwäldern, Lagunen und Mooren und reicht bis an den tosenden Pazifik, von dem er durch einen Dünengürtel getrennt ist.

Der weitaus größte Teil des Parks ist unzugänglich, aber vereinzelte Wanderwege ermöglichen einen schönen Einblick in die üppige Fauna des Regenwaldes. Wir verbringen eine Weile an einem breiten, einsamen Strand, wo ein vom Meer geformter Kieselstein schöner als der andere ist, und beobachten das Wolkentheater am Himmel.

Was wir von Chiloé sehen, gefällt uns sehr gut. Die hügelige Landschaft ist in allen Grüntönen schattiert und die Wiesen sind mit Butterblumen, Vergißmeinicht und Gänseblümchen übersät. Die Menschen leben auf kleinen, von Weidezäunen aus Holz umgebenen Gehöften und in ihren Gärten setzen üppig wachsende blaue Hortensien, pinkfarbene Rhododendren und Stockrosen fröhliche Farbtupfer. Mehrfamilienhäuser oder zur Miete wohnen wie in Europa sind hier unbekannt, fast jeder hat hier uralten, von Generation zu Generation vererbten Grundbesitz. Im Gegensatz zu den Tieren im wüstenhaften Norden des Landes sind die Rinder, Pferde und Schafe kugelrund, haben glänzendes Fell und schauen zufrieden. Kälberwiesen wie in Deutschland gibt es nicht; hier bleiben die Familien lange zusammen und die Milch bekommt das Kalb und nicht Aldi. Überall auf der Insel stehen winzige, mit Alerce-Schindeln verkleidete Kirchen. Insgesamt gibt es auf Chiloé 150 dieser Kirchen, von denen sechzehn in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen wurden. Die Außenvertäfelung mit den rund 90 Zentimeter langen Schindeln, von denen nur ein Drittel sichtbar ist, ist vielfältig. Insgesamt gibt es zehn verschiedene Stile von tejuelas.

In Castro hatten wir die Fährpassage für die Überfahrt Quellón – Chaitén gebucht. Das Boot fährt zweimal pro Woche und die Überfahrt dauert je nach Wetter vier bis fünf Stunden. Quellón mit seinen 15.000 Einwohnern ist die südlichste Stadt der Insel und gelangte zu landesweitem Ruhm, als hier 1906 die erste Schnapsbrennerei Chiles errichtet wurde. In ihren Anfängen kaufte sie 150.000 Hektar Wald, der nach und nach zu Holzkohle verfeuert wurde. Die Brennerei gibt es heute nicht mehr und Quellón lebt von der Muschel- und Lachszucht im Golfo Corcovado sowie von der steigenden Zahl an Touristen. Die Stadt selbst ist unspektakulär, aber vom Strand mit den bunten, auf den Wellen schaukelnden Fischerbooten bieten sich bei wolkenlosem Himmel herrliche Blicke auf die schneebedeckten Vulkane viele Kilometer entfernt auf dem Festland gegenüber.

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Unsere Fähre, die Don Baldo, soll um 3.00 Uhr – ja, mitten in der Nacht – in Quellón ablegen. So ungefähr jedenfalls, festlegen möchte sich niemand so genau. Wir werden aufgefordert, uns wegen der Fahrzeugverladung bereits um Mitternacht im Hafen einzufinden. Hinweisschilder, wo die Don Baldo anlegen wird, gibt es keine in der Stadt, daher fragen wir uns durch. Wir sind frühzeitig an der Anlegestelle bei den Fischverarbeitungsbetrieben und Lachsfarmen im Norden der Stadt, stellen den Wecker und legen uns für kurze Zeit hin. Aufgrund der langen Verladezeit, die uns angegeben wurde, erwarten wir ein relativ großes Schiff, aber als die Don Baldo einläuft ist sie nicht wirklich groß. Auf dem Steg reiben wir uns noch den Schlaf aus den Augen, als wir ein deutsches Paar aus Jena wiedersehen, die wir bereits in Cusco auf der Quinta Lala kurz kennengelernt hatten. Ihre Reiseroute war seitdem ganz anders als unsere, aber hier kreuzen sich überraschend unsere Wege.

Die Bugklappe der Don Baldo wird – die Estonia-Katastrophe scheint hier unbekannt zu sein – schon weit vor der Anlegestelle vollständig heruntergefahren, dann legt das Schiff in schrägem Winkel an der Betonrampe an und das Verladen beginnt. Insgesamt werden acht große Sattelschlepper mit jeweils rund 50.000 Litern Benzin und Diesel rückwärts auf die Fähre gefahren, wobei die Fahrer fast im rechten Winkel um die Ecke rangieren müssen. Alle Achtung, das ist eine Meisterleistung. Anschließend werden Unimoppel und der einzige weitere PKW verfrachtet, dann ist der Schiffsbauch voll und die nächtliche Fahrt zum Festland beginnt. Ein etwas seltsames Gefühl, mit fast einer halben Million Liter hochexplosiver Fracht unterwegs zu sein, aber das Meer ist spiegelglatt, die Überfahrt ruhig und wir können in unseren Sesseln dösen, bis wir frühmorgens im verschlafenen Chaitén, unserem Einstieg in die Carretera Austral, ankommen.

Verliebt in Chile

Nach den wenig ersprießlichen Kontakten und überwiegend ernüchternden zwischenmenschlichen Erfahrungen mit den Einheimischen in Bolivien – Peru war deutlich besser – sind wir hier jetzt geradezu verliebt in Land und Leute. Sich mit Chileninnen und Chilenen zu unterhalten und Zeit zu verbringen macht einfach Spaß. Sie haben eine äußerst angenehme Art, auf Menschen zuzugehen und mit Menschen umzugehen. Dies bezieht sich nicht nur auf Fremde wie uns, sondern in gleichem Maße auf den Umgang unter ihresgleichen.

Ihre Umgangsformen sind vorbildlich in ihrer Höflichkeit und Eleganz, ohne aufgesetzt oder affektiert zu wirken. Bei einer Begegnung, egal, ob vor dem Supermarkt, am Strand oder in einem Restaurant, egal ob jung oder alt, gehört es zum guten Ton, sich mit dem Vornamen vorzustellen und die Hand zu reichen. Beim Händedruck werden die Hände nicht geschüttelt, wie häufig in Europa, sondern mit mäßig festem Druck ineinandergelegt und die Hand des Gegenüber wird für einen kurzen Moment länger gehalten als bei uns üblich. Es fühlt sich angenehm an, etwas persönlicher und verbindlicher, keineswegs aufdringlich. Beim Abschied gibt man sich erneut die Hand und manchmal legt der Chilene oder die Chilenin zusätzlich die freie Hand leicht aufs das Handgelenkt. Immer, selbst wenn wir nur in der panaderia ein Brot kaufen, wird uns ein von Herzen kommendes „Que le vaya bien“ mit auf den Weg gegeben.

Selbst eine Polizeikontrolle auf dem Land ist hier ein angenehmes Erlebnis, denn der Polizist in seiner schicken dunklen Uniform fragt mit beispielhafter Liebenswürdigkeit „Gestatten Sie, daß wir uns kurz Ihre Dokumente anschauen?“ Wir trauen unseren Ohren nicht.

Wir werden immer wieder auf eine nette Art angesprochen und die Menschen zeigen aufrichtiges Interesse an uns, unserem Fahrzeug, unserer Reise und der Familie in Deutschland, ohne dabei neugierig zu sein. Die meisten Chilenen haben europäische Wurzeln und je südlicher man im Land reist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, im Stammbaum der Familie Großeltern oder Urgroßeltern aus Italien, der Schweiz oder Deutschland anzutreffen. Von der Sprache ist meist nicht viel geblieben, aber viele Traditionen haben sich bis heute erhalten und werden mit Hingabe gepflegt. In den Bäckereien gibt es nach wie vor keinen spanischen Begriff für „Kuchen“, man hängt Blumenkästen vor die Fenster und tanzt Walzer.

Außerdem zeichnen sich die Chileninnen und Chilenen durch eine auffallend große Gastfreundschaft aus. Im Laufe der Gespräche haben wir immer wieder Einladungen zum Essen nach Hause erhalten, die ernst gemeint waren, da sie wiederholt und mit großem Nachdruck ausgesprochen wurden.

Wirft man einen Blick zurück in die Geschichte des Landes, dann werden enge Verflechtungen von Deutschland und Chile offensichtlich. Chile hat immer eine offene Einwanderungspolitik betrieben und die erste Welle deutscher Siedler, die sich überwiegend im Süden niederließen, setzte ab 1850 ein. Diese Siedler waren in Ackerbau und Viehzucht, aber auch in Handwerk und Brauereikunst sehr erfolgreich. Erste größere Unternehmen entstanden, das Militär wurde mit Hilfe von Deutschen geschult und organisiert und die Firma Krupp lieferte Waffen aus Essen. Die nachfolgenden Generationen standen fest hinter der aggressiven deutschen Außen- und Wirtschaftspolitik, und auch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gab es zunächst mehr Beifall als Kritik.

Das änderte sich, nachdem Chile auf Drängen der USA den Alliierten beitrat und deutsche Firmen auf die black list setzte. Nach dem Zusammenbruch des Hitler-Reiches hatten deutsche Namen in Chile keinen guten Klang mehr, und die deutschstämmigen Chilenen verleugneten häufig ihre Herkunft und betonten das Chilenentum zunehmend. Während des Nazi-Regimes retteten sich rund 13.000 Menschen, der überwiegende Teil Juden, nach Chile. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges flüchteten aber auch ehemalige Funktionäre auf der Suche nach einem Versteck erfolgreich in das Land hinter den Bergen, denn die chilenische Regierung lehnte eine Auslieferung nach Deutschland. Während der Pinochet-Diktatur setzte dann eine umkehrte Migration ein; mehrere Zehntausend Chilenen flohen vor den Repressalien und der Gewalt in die beiden deutschen Staaten und baten um Asyl, kehrten aber ab Mitte der 1980er Jahre weitestgehend mit ihren Familien in die Heimat zurück.

Prominenteste deutsche Einwanderin der jüngeren Vergangenheit ist Margot Honecker, die von ihrer Witwenrente in Höhe von rund 1.500 EUR nahe Santiago lebt.

Wer sich tiefgehender interessiert: Die chilenische Schriftstellerin Isabel Allende, die in Kalifornien lebende Nichte von Salvador Allende, hat in ihrem Buch „Mein erfundenes Land“ ein schönes und amüsantes Porträt ihrer Landsleute gezeichnet.