Der Verwalter des privaten Naturreservates kann uns leider auch keine Querfeldein-Abkürzung vom Valle California nach La Junta nennen. In der Region ist zwar die Rede von einer Straße durch den Urwald, die im Rahmen eines Förderprogrammes gebaut werden soll, aber wann und wie der aktuelle Stand des Vorhabens ist weiß hier niemand. Solange die Straße nicht existiert interessiert sie hier auch niemanden. Wenn die Strecke dann irgendwann befahrbar ist wird die Nachricht allerdings wie die olympische Fackel in Windeseile von Dorf zu Dorf wandern. Wir fahren also ein Stück zurück, biegen wieder auf die Carretera Austral nach Süden ab und beschließen in La Junta, die rund siebzig Kilometer lange Schotterpiste bis ans Meer nach Puerto Raul Marin Balmaceda zu fahren. Die Fahrt wird uns durch das lange Tal des Rio Palena führen und da es schon spät ist schlagen wir unser Nachtlager auf einer idyllisch gelegenen Wiese am Flußufer auf. Niemand ist zu sehen oder zu hören und die Nacht ist still bis auf das gleichmäßige Gurgeln des Wassers im Hintergrund.
Wir wähnen uns schon als Adam und Eva im Paradies, als am nächsten Morgen kurz nach dem Frühstück hinter uns aus dem Nichts plötzlich Stimmen laut werden: „Do you speak English?“ Seit wann können Flüsse sprechen? Und dann: „Ohhhh, you speak German?!!!!!“ Vom Flussbett kommen Julian und Markus angestapft und setzen uns mit wenigen Worten ins Bild: Sie haben sich schlichtweg verpaddelt, wollten eigentlich mit ihrem kleinen Otter-Raftingboot viel weiter östlich in den Rio Rosselot abbiegen und haben den Flussarm um schlappe siebzehn Kilometer verpasst. Das hört sich erstmal wenig an, aber bei der starken Strömung des Rio Palena ist es unmöglich, die Strecke zurück zu paddeln. In der Einsamkeit gestrandet kann man hier auch nicht darauf hoffen, daß in absehbarer Zeit ein Auto vorkommt, das einen zum Wunschort befördern kann. Das Warten kann hier auch mal Tage dauern.

Die beiden Jungs gestehen, daß sie hungrig wie Wölfe sind, denn an Bord sind zu allem Unglück auch noch die Nahrungsmittel ausgegangen. Nachdem wir die beiden mit Brot und Salami abgefüttert haben erfahren wir mehr. Beide sind Mitte zwanzig, kommen aus dem Schwabenländle, haben gerade ihr Studium beendet und bereisen jetzt mit ihrem kleinen Boot, zwei Paddeln, Neoprenanzug, Zelt, Minimalgepäck und Satellitentelefon für einige Monate die Flüsse Chiles, Ecuadors und Brasiliens, bevor es zum Abschluß zum „Chillen“ nach Panama geht. Wir finden, daß das eine ganz tolle Art zu reisen und eine außergewöhnliche Perspektive ist, sich ein Land anzuschauen. Es muß sehr schön sein, über die türkisfarbenen Flüsse zu paddeln, über schäumende Stromschnellen durch den Urwald zu jagen, vorbei an blühenden Wiesen, durch enge Schluchten mit großen Granitblöcken, vom Boot aus Lachse oder Forellen zu angeln und abends bei einem Lagerfeuer auf einer Kiesbank mitten im Fluß zu campieren. Mit der Romantik ist es allerdings vorbei, wenn eine typisch patagonische Schlechtwetterfront mit Regen und horizonal stürmendem Wind hereinzieht. Dann kann es sein, daß man Tage im Zelt verbringen muß, die Klamotten und der Schlafsack sind irgendwann klamm und die Moral am Boden.
Markus und Julian sind flexibel, wir adoptieren sie kurzerhand für paar Tage, die Otter wird zum Drachen & Co aufs Dach geschnallt und zu Viert fahren wir weiter. Je näher wir dem Meer kommen desto ursprünglicher und unbewirtschafteter wird die Landschaft. Dann endet die Piste an einem kleinen Anleger aus Beton und wir überqueren auf einer winzigen Fähre den Rio Palena, bevor es auf der anderen Seite des hier breiten, aber gemächlich dahinfließenden Flusses weitergeht.
Das kleine Dorf Puerto Raul Marin Balmaceda ist umgeben von dichtem Naturwald und besteht aus nicht mehr als einer Handvoll Häuser. Hier leben zumeist Fischer. Mit dem Unimog bahnen wir uns einen Weg durch dichten, leuchtend gelb blühenden Ginster, bis wir die Dünen und den weißen Sandstrand erreichen.

Dort, wo der Rio Palena ins Meer mündet, schlagen wir unser Camp auf. Hugo lässt sich von den Jungs noch eine Runde wie Graf Koks über den Fluß paddeln, dann wird sich der genetisch zutiefst verankerten männlichen Aufgabe des Feuermachens gewidmet.

Das gesammelte Treibholz brennt gut, bald lodern die Flammen und wir genießen die Zeit, bis die Sonne hinter den Bergen verschwunden ist.

In der Nacht fällt Regen, aber am nächsten Morgen kommt die Sonne wieder durch und schon bald ist der Himmel klar. Beim Frühstück ziehen gemächlich einige dunkle Delphine mit hellem Bauch in zehn, fünfzehn Meter Abstand flussaufwärts an uns vorbei. Später, am Strand gleich um die Ecke, sehen wir sie wieder und beobachten sie beim Jagen nach Fischen. In den großen, mit Strandhafer bedeckten Dünen wachsen Tausende wilder Erdbeeren, die um diese Jahreszeit weiße Blüten tragen. Ich hüpfe wie Rumpelstilzchen umher, um keines dieser Pflänzchen zu zertreten. In ein paar Wochen wird aus jeder Blüte eine dieser herrlich geschmacksintensiven, süßen kleinen Früchte gereift sein, aber dann sind wir leider schon nicht mehr da.
Am weitläufigen Sandstrand ist außer uns kein Mensch zu sehen, außer der Brandung des Pazifiks und vereinzelten Vogelrufen ist kein Laut zu hören. Hinter den gelben Ginsterbüschen zeichnen sich entfernt am Horizont die schneebedeckten Gipfel der Anden vor dem strahlend blauen Himmel scharf ab. Die Zeit perlt dahin. Keine Menschen, keine Autos, keine Züge. Kein Flugzeug, das den patagonischen Himmel zerschneidet. Kein Fernsehen, kein Radio, kein Telefon, kein Wi-Fi. Kein facebook, kein Whats App, kein Linked-in, keine Nachrichten. Keine Termine, keine Eile, keine Hektik, kein Stress. Einfach nur Stille und natürliche Schönheit. Man möchte in diesem Moment verweilen, ihn festhalten, einfach nur da sein. Da. Sein.
Wir würden am liebsten hier bleiben; es ist zum HERZDRÜCKEN schön.