Archiv für den Tag: 19. Dezember 2014

Wir sehen lila

Nachdem wir den kurvigen, aber nur fünfhundert Meter hohen Queulat-Paß hinter uns gelassen haben verabschieden wir uns wieder vorübergehend von der Carretera und steuern Puerto Cisnes an, einen beschaulichen, sehr authentischen kleinen Ort mit einem schönen halbmondförmigen Naturhafen. Hier legen auch einige kleine Fähren zu den vorgelagerten Inseln ab und wir spekulieren auf eine spontane Überfahrt bis Puerto Chacabuco. Vielleicht haben wir Glück und am nächsten oder übernächsten Tag fährt ein Schiff. Das lokale kleine Büro der Reederei hat laut Tafel täglich von 9.00 bis 13.00 Uhr geöffnet, aber während dieser Zeit zeigt sich dort niemand. Am nächsten Morgen ist das Büro allerdings schon um 8.00 Uhr besetzt und wir erkundigen uns nach Möglichkeiten einer Überfahrt. Leider wird die Strecke nur einmal wöchentlich, am Freitag, befahren, was für uns eine Wartezeit von vier Tagen hieße.

Das ist uns zu lang, also setzen wir nach zwei Nächten am Strand von Puerto Cisnes unsere Fahrt nach Puerto Aysen und Puerto Chacabuco fort. Besonders Puerto Aysen gefällt uns gut; die Stadt mit ihren rund 30.000 Einwohnern strahlt noch heute etwas vom Pioniergeist früherer Tage aus und ist sehr entspannt. Die Region hier rund um die „“Hauptstadt“ Coyhaique ist dichter besiedelt als das übrige Patagonien und die Carretera, sonst überwiegend eine wenig komfortable Schotterpiste, ist hier sogar ein Stück asphaltiert.

Der Himmel ist über Nacht vollständig aufgeklart und Patagonien zeigt sich von seiner schönsten Seite. Die Sonne strahlt heiß von einem wolkenlosen Himmel. Die auch so schon herrliche grüne Landschaft schaut aus, als hätten die Götter im Rausch der Farben hemmungslos lila Granaten auf die Erde geworfen und explodieren lassen.

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Entlang der Straße und in den Kiesbetten der türkis-blauen Flüsse blühen dicht an dicht Abertausende lila Lupinen, die noch dazu einen intensiven Duft verströmen. Die leuchtende Farbe ist ein wunderbarer Kontrast zu den schneebedeckten Gipfeln der Berge im Hintergrund, dem Grün der Wiesen, dem Türkis der Flüsse und dem Blau des Himmels. Wir können uns gar nicht satt sehen an dieser Blütenpracht.

Spätnachmittags fahren wir über eine letzte Anhöhe, dann liegt das Städtchen Coyhaique in einem weiten Tal vor uns, umgeben von grünen Wiesen und malerisch zu Füßen des imposanten Tafelberges Cerro Mackay.

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Ventisquero Gletscher

Von der Küste geht es die gleiche Strecke – es gibt nur diese eine Schotterpiste durch den Urwald – vorbei an den kleinen Schaf- und Rinderfarmen zurück nach La Junta, wo wir im Dorfladen unseren Proviant aufstocken. Gemüse und frisches Obst sind Mangelware; wenn nicht gerade der wöchentliche oder monatliche LKW aus Puerto Montt eine frische Ladung gebracht hat, ist außer Zwiebeln nicht viel zu bekommen. Stattdessen führt der kleine Laden mindestens dreißig verschiedene Putzmittel für den Haushalt.

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Julian und Markus wollen den Rio Figueroa gerne noch paddelnd bezwingen, also verbringen wir noch eine Nacht am bereits bekannten Wiesenstellplatz am Flussufer des Rio Palena und fahren am nächsten Morgen kurzerhand Richtung argentinische Grenze bis nach Lago Verde. Nach einer Nacht am jadegrünen See trennen sich unsere Wege; vielleicht sammeln wir die beiden sportlichen Rafter weiter im Süden ja noch einmal ein :-).

@Markus und Julian: War schön mit Euch!

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Wir setzen unsere Fahrt fort und erreichen mit Puerto Puyuhuapi ein malerisches Siedlerdorf am nördlichen Ende des Ventisquero-Fjordes, der weit ins Land hinein ragt. Heimelige, mit Holz verkleidete und gut gepflegte Häuschen säumen das Ufer. Der Ort ist vergleichsweise jung; er wurde von vier Sudentendeutschen erst 1935 gegründet. Zu ihnen zählte Walter Hopperdietzel, der hier in Puyuhuapi die erste Teppichmanufaktur gründete, die noch heute Teppiche webt. Die kleinen Cafes und Hotels im Ort tragen häufig einen deutschen Namen wie zum Beispiel Casa Ludwig oder Cafe Rossbach.

Südlich von Puyuhuapi führt die Carretera Austral durch den Parque Nacional Queulat, einen Urwald mit hohen Bäumen, Bambus, Scheinbuchen, rotblühenden Fuchsiengewächsen, Lianen, Farnen und Nalca-Pflanzen, dem wilden Rhabarber Patagoniens. Vom Parkeingang aus führt eine 3,5 Kilometer lange Wanderung bis zu einem Aussichtspunkt, der den Blick auf den Ventisquero Colgante, den hängenden Gletscher freigibt. Der Himmel ist mit dicken grauen Wolken verhangen, aber wir beschließen, trotzdem loszumarschieren. Es geht durch einen Zauberwald mit von dichten Moosen und Flechten besetzten Bäumen, über gewaltige Felsbrocken, vorbei an Riesenfarnen und jungen Trieben, die sich im Schatten der Urwaldriesen gerade erst ausrollen.

Am Tag zuvor hat es geregnet und der Pfad steht zu einem großen Teil unter Wasser; manchmal stehen wir knöcheltief im dicken Matsch und bei jedem Schritt geben die Trekkingschuhe ein schmatzendes Geräusch von sich. Winzige grün-braun schimmernde Kolibris fliegen vorbei und verharren flügelschlagend und Nektar trinkend vor den rot leuchtenden Blüten einer Pflanze, die selbst eher wie ein Tier ausschaut.

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Der Aufstieg ist rutschig und anstrengend und wir benötigen für die 3,5 Kilometer knapp zwei Stunden, bis wir den Aussichtspunkt gegenüber dem Gletscher erreicht haben. Wir haben Glück: Die Wolken verziehen sich für einen Moment und geben die Sicht auf den gewaltigen blau-weißen Überhang aus Eis frei, der zwischen den Felsen talwärts zu stürzen droht, aber lediglich ein Schwall aus Schmelzwasser ergießt sich in den tief in der Schlucht verlaufenden Fluß. Während des Tages hatte ich wie immer einige Bilder geschossen, aber ein paar Tage später muß ich feststellen, daß mir die Fotogötter einen Streich gespielt haben: Die SD-Card ist defekt; die Fotos von unserer Wanderung sowie den Tagen danach sind darauf, aber ich komme – zumindest für den Moment – nicht mehr daran :-(.

Verpaddelt

Der Verwalter des privaten Naturreservates kann uns leider auch keine Querfeldein-Abkürzung vom Valle California nach La Junta nennen. In der Region ist zwar die Rede von einer Straße durch den Urwald, die im Rahmen eines Förderprogrammes gebaut werden soll, aber wann und wie der aktuelle Stand des Vorhabens ist weiß hier niemand. Solange die Straße nicht existiert interessiert sie hier auch niemanden. Wenn die Strecke dann irgendwann befahrbar ist wird die Nachricht allerdings wie die olympische Fackel in Windeseile von Dorf zu Dorf wandern. Wir fahren also ein Stück zurück, biegen wieder auf die Carretera Austral nach Süden ab und beschließen in La Junta, die rund siebzig Kilometer lange Schotterpiste bis ans Meer nach Puerto Raul Marin Balmaceda zu fahren. Die Fahrt wird uns durch das lange Tal des Rio Palena führen und da es schon spät ist schlagen wir unser Nachtlager auf einer idyllisch gelegenen Wiese am Flußufer auf. Niemand ist zu sehen oder zu hören und die Nacht ist still bis auf das gleichmäßige Gurgeln des Wassers im Hintergrund.

Wir wähnen uns schon als Adam und Eva im Paradies, als am nächsten Morgen kurz nach dem Frühstück hinter uns aus dem Nichts plötzlich Stimmen laut werden: „Do you speak English?“ Seit wann können Flüsse sprechen? Und dann: „Ohhhh, you speak German?!!!!!“ Vom Flussbett kommen Julian und Markus angestapft und setzen uns mit wenigen Worten ins Bild: Sie haben sich schlichtweg verpaddelt, wollten eigentlich mit ihrem kleinen Otter-Raftingboot viel weiter östlich in den Rio Rosselot abbiegen und haben den Flussarm um schlappe siebzehn Kilometer verpasst. Das hört sich erstmal wenig an, aber bei der starken Strömung des Rio Palena ist es unmöglich, die Strecke zurück zu paddeln. In der Einsamkeit gestrandet kann man hier auch nicht darauf hoffen, daß in absehbarer Zeit ein Auto vorkommt, das einen zum Wunschort befördern kann. Das Warten kann hier auch mal Tage dauern.

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Die beiden Jungs gestehen, daß sie hungrig wie Wölfe sind, denn an Bord sind zu allem Unglück auch noch die Nahrungsmittel ausgegangen. Nachdem wir die beiden mit Brot und Salami abgefüttert haben erfahren wir mehr. Beide sind Mitte zwanzig, kommen aus dem Schwabenländle, haben gerade ihr Studium beendet und bereisen jetzt mit ihrem kleinen Boot, zwei Paddeln, Neoprenanzug, Zelt, Minimalgepäck und Satellitentelefon für einige Monate die Flüsse Chiles, Ecuadors und Brasiliens, bevor es zum Abschluß zum „Chillen“ nach Panama geht. Wir finden, daß das eine ganz tolle Art zu reisen und eine außergewöhnliche Perspektive ist, sich ein Land anzuschauen. Es muß sehr schön sein, über die türkisfarbenen Flüsse zu paddeln, über schäumende Stromschnellen durch den Urwald zu jagen, vorbei an blühenden Wiesen, durch enge Schluchten mit großen Granitblöcken, vom Boot aus Lachse oder Forellen zu angeln und abends bei einem Lagerfeuer auf einer Kiesbank mitten im Fluß zu campieren. Mit der Romantik ist es allerdings vorbei, wenn eine typisch patagonische Schlechtwetterfront mit Regen und horizonal stürmendem Wind hereinzieht. Dann kann es sein, daß man Tage im Zelt verbringen muß, die Klamotten und der Schlafsack sind irgendwann klamm und die Moral am Boden.

Markus und Julian sind flexibel, wir adoptieren sie kurzerhand für paar Tage, die Otter wird zum Drachen & Co aufs Dach geschnallt und zu Viert fahren wir weiter. Je näher wir dem Meer kommen desto ursprünglicher und unbewirtschafteter wird die Landschaft. Dann endet die Piste an einem kleinen Anleger aus Beton und wir überqueren auf einer winzigen Fähre den Rio Palena, bevor es auf der anderen Seite des hier breiten, aber gemächlich dahinfließenden Flusses weitergeht.

Das kleine Dorf Puerto Raul Marin Balmaceda ist umgeben von dichtem Naturwald und besteht aus nicht mehr als einer Handvoll Häuser. Hier leben zumeist Fischer. Mit dem Unimog bahnen wir uns einen Weg durch dichten, leuchtend gelb blühenden Ginster, bis wir die Dünen und den weißen Sandstrand erreichen.

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Dort, wo der Rio Palena ins Meer mündet, schlagen wir unser Camp auf. Hugo lässt sich von den Jungs noch eine Runde wie Graf Koks über den Fluß paddeln, dann wird sich der genetisch zutiefst verankerten männlichen Aufgabe des Feuermachens gewidmet.

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Das gesammelte Treibholz brennt gut, bald lodern die Flammen und wir genießen die Zeit, bis die Sonne hinter den Bergen verschwunden ist.

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In der Nacht fällt Regen, aber am nächsten Morgen kommt die Sonne wieder durch und schon bald ist der Himmel klar. Beim Frühstück ziehen gemächlich einige dunkle Delphine mit hellem Bauch in zehn, fünfzehn Meter Abstand flussaufwärts an uns vorbei. Später, am Strand gleich um die Ecke, sehen wir sie wieder und beobachten sie beim Jagen nach Fischen. In den großen, mit Strandhafer bedeckten Dünen wachsen Tausende wilder Erdbeeren, die um diese Jahreszeit weiße Blüten tragen. Ich hüpfe wie Rumpelstilzchen umher, um keines dieser Pflänzchen zu zertreten. In ein paar Wochen wird aus jeder Blüte eine dieser herrlich geschmacksintensiven, süßen kleinen Früchte gereift sein, aber dann sind wir leider schon nicht mehr da.

Am weitläufigen Sandstrand ist außer uns kein Mensch zu sehen, außer der Brandung des Pazifiks und vereinzelten Vogelrufen ist kein Laut zu hören. Hinter den gelben Ginsterbüschen zeichnen sich entfernt am Horizont die schneebedeckten Gipfel der Anden vor dem strahlend blauen Himmel scharf ab. Die Zeit perlt dahin. Keine Menschen, keine Autos, keine Züge. Kein Flugzeug, das den patagonischen Himmel zerschneidet. Kein Fernsehen, kein Radio, kein Telefon, kein Wi-Fi. Kein facebook, kein Whats App, kein Linked-in, keine Nachrichten. Keine Termine, keine Eile, keine Hektik, kein Stress. Einfach nur Stille und natürliche Schönheit. Man möchte in diesem Moment verweilen, ihn festhalten, einfach nur da sein. Da. Sein.

Wir würden am liebsten hier bleiben; es ist zum HERZDRÜCKEN schön.