Archiv für den Tag: 17. März 2015
Sintflut
Wir verlassen, dieses Mal endgültig, die Valles Calchaquiés und stürzen uns fast zweitausend Meter tief in Serpentinen durch die dicht bewaldeten Yungas bis in die fruchtbare und dicht besiedelte Ebene von Tucumán. Hier erstreckt sich die einzige nicht wüstenhafte Region des argentinischen Nordwestens.
Ab hier liegt eine lange Strecke über asphaltierte Fernstraßen durch ländliche Gebiete vor uns. Die Straßen sind relativ frei von Schlaglöchern, aber dafür voller Zentimeter tiefer Spurrillen, die die schweren LKW in den von der Sonne angeschmolzenen Asphalt gegraben haben. Wir fahren an Soja-, Bohnen-, Mais- und Zuckerrohrfeldern vorbei, die schon fast die Ausmaße der Plantagen in Brasilien haben. Jardín del país, Garten des Landes, nennen die Argentinier dieses Stückchen Erde.
In den Hochtälern zwischen der Kordillere und dem Andenhauptkamm brannte die Sonne, hier dagegen ist der Himmel über uns von großen grauen Wolken bedeckt, die von der Andenkordillere am Weiterziehen gehindert werden und sich an ihrer Ostflanke stauen. Die ersten Vorboten der Schlechtwetterfront hatten wir schon in Salta gesehen, jetzt entladen sich die himmlischen Wasserspeicher und es regnet fast nonstop. Die Salinas Grandes und Salinas de Ambargasta nördlich von Cordoba stehen bereits unter Wasser, als wir zwischen ihnen hindurch fahren.
Am frühen Abend erreichen wir die nördliche Peripherie des Großraums Cordoba. Es regnet noch immer. Wir haben vor, noch rund siebzig Kilometer weiter nach La Cumbre zu fahren, um dort die nächsten Tage in den Sierras zu fliegen, aber die Anfahrt gestaltet sich als schwierig bis unmöglich. Unser erster Versuch scheitert, weil alle Straßen östlich der Sierras von der Polizei bereits gesperrt sind. Flüsse sind über die Ufer getreten und führen roten, aufgewühlten Schlamm in ihren Fluten, Felder und Wiesen stehen komplett unter Wasser, die Pisten sind zu Matsch aufgeweicht und in den Bergen drohen Erdrutsche, Schlammlawinen und Steinschlag. Wir fahren zurück und suchen eine weiträumige Umgehung.
Als die Sonne fast untergegangen ist färbt sich der Himmel in einem bedrohlichen Grün-Schwarz. Minuten später ist die Gewitterfront mit voller Wucht da. Vor uns am Horizont zuckt ein gewaltiger Blitz aus den Wolken, steht wie ein glühender Pfeil in der Luft und teilt den Himmel sekundenlang in zwei Hälften, bevor er in den Boden einschlägt. Der Strahl aus purer Energie muß mehrere Meter breit gewesen sein und der Donnerschlag, der darauf folgt, ist ohrenbetäubend laut.
Wir versuchen, trotz des vielen Wassers von oben, uns unserem Ziel La Cumbre irgendwie zu nähern, aber der Umweg erweist sich ebenfalls als nicht fahrbar, auch nicht mit 4×4 oder Unimog. Die Polizisten an den neuralgischen Verkehrspunkten haben die Straßen in die Richtung komplett abgeriegelt und raten uns zu einer anderen, noch weiträumigeren Umfahrung von Cordoba, um auf die andere, die westliche Seite der Sierras zu gelangen. Von dort könnten wir dann von Süden her La Cumbre ansteuern. Weiträumig bedeutet einen Umweg von mindestens 150 bis 200 Kilometern… Inzwischen ist es stockfinster, und so beschließen wir, die Nacht an der Tanke zu verbringen und abzuwarten, was der neue Tag bringt. Über Nacht setzt sich der Regen in unverminderter Stärke fort und trommelt in lautem Stakkato auf unser Kabinendach. Als ich am nächsten Morgen aus dem Kabinenfenster schaue traue ich meinen Augen nicht: Wo gestern noch die Straße war … schwimmt heute eine Ente! Ohne Quatsch. Die Fernstraße hat sich in einen braunen Fluß verwandelt, der Schlamm, Äste und Gestrüpp mit sich führt. Der potenzielle Umweg ist somit auch verbaut, wir sitzen vorläufig fest. Einige andere Wagen hat das gleiche Schicksal ereilt.
Bei einem Kaffee an der Tankstelle tauscht man sich aus, alle sind unaufgeregt und nehmen die Situation mit Gelassenheit. Von der Polizei, die eine „Einsatzzentrale“ direkt an der Tankstelle eingerichtet hat, erfahren wir, daß die Überschwemmungen bisher ungekannte Ausmaße angenommen haben. Die gesamten Provinzen Santiago del Estero, Salta, Tucuman, Santa Fe und Cordoba sind von der Katastrophe betroffen, ganze Straßenabschnitte wurden weggespült, Brücken sind eingestürzt, das Handynetz ist ausgefallen, WiFi geht nicht mehr… Bei den Einsatztruppen herrscht höchste Alarmbereitschaft.
Beim Frühstück stellen wir Überlegungen an, wie wir den Unimog am geschicktesten zu einer Arche Noah umbauen. Am besten fällen wir mit unserer Axt und Säge ein paar der umstehenden großen Bäume, schnallen den Wagen einfach auf das improvisierte Floß und sammeln dann paarweise die Tiere: zwei Llamas, zwei Esel, zwei Schafe, zwei Gürteltiere, zwei Papageien, zwei Schlangen…
Es ist leicht, zu frotzeln, wenn man wie wir sicher und im Trockenen sitzt. Wenn wir an die Menschen und ihre einfachen Behausungen auf dem Land entlang der gefahrenen Strecke denken, wird uns ganz anders zumute. Tausende bringen sich vor den Fluten in Sicherheit, zwölf Menschen verlieren ihr Leben. Tage später schickt uns DerNachbar einen Link; auch in Deutschland wurde über die Katastrophe berichtet:
http://www.spiegel.de/fotostrecke/argentinien-hochwasserkatastrophe-in-cordoba-fotostrecke-124490.html
Im Laufe des Tages lässt der Regen nach und das Wasser beginnt abzulaufen. Gegen 18.00 Uhr gibt die Polizei Teilentwarnung. Auch wenn die Straßen noch unter Wasser stehen: PKW müssen weiterhin warten, aber LKW mit großen Reifen dürfen fahren, und so starten wir den Motor in der Hoffnung, heute La Cumbre zu erreichen.
Quebrada de las Flechas
Von Cachi bis Cafayate wurde eine kurvenreiche Sand- und Schotterpiste rund 180 Kilometer mitten durch die bizarren Felsformationen der Quebrada de las Flechas geschoben, was „Schlucht der Speere“ bedeutet. Ein bisschen erinnert die Landschaft mit ihren in der gleißenden Sonne grau, orange und weiß leuchtenden Felsen an das Monument Valley in Utah. Über allem wacht der 6.380 Meter hohen Nevado de Cachi vor dem azurblauen Himmel Nordargentiniens.
Es gibt immer wieder Engstellen, Brücken mit nur einer schmalen Fahrbahn und ohne „Geländer“ und blinde Kurven, in denen wir inständig hoffen, daß Gegenverkehr ausbleibt, da es neben der Piste bedenklich weit abwärts geht. Teilweise rumpeln wir mit nur 20 kmh voran. Öffentlichen Busverkehr, der die Dörfer miteinander verbindet, gibt es auf dieser Strecke nicht; die Piste ist gänzlich unbefestigt und einfach zu schlecht. Prompt treffen wir unterwegs auf einen 4×4, der in einer Kurve seitlich weggerutscht ist und sich im Sand eingegraben hat. Zum Glück ist niemandem etwas passiert. Wir bieten an, den Wagen mit der Winde aus dem Sand zu ziehen, aber ein örtlicher Trecker steht schon bereit.
An manchen Stellen schlägt die Piste unvermittelt eine Haken um einzelne Häuser herum, dann wird es auf baumbestandenen Alleen sehr eng, Ziegen oder Esel springen plötzlich über die Fahrbahn, oder am linken Pistenrand befindet sich ein gut gefüllter Bewässerungskanal und am rechten eine wuchernde Hecke. Und nirgendwo Platz zum Ausweichen. Hugo fährt mit äußerster Konzentration.
Heller Sandstein prägt das enge Tal, und die Felsen ragen schräg und spitz wie Speere aus dem Boden. Die Landschaft ist karg, gleicht einer Marslandschaft; aber entlang des schmalen, ganzjährig Wasser führenden Flusses wächst viel Grün. Viele Feldfrüchte gedeihen in dem heißen Klima mit 350 Sonnentagen pro Jahr bestens und die Orte können sich nicht nur selbst versorgen, sondern die Produkte auch in andere Landesteile exportieren.
Unterwegs treffen wir auf kleine Ortschaften, pueblitos, die meist aus nicht mehr als einer Handvoll Häusern und einer kleinen Kirche mit Glockenturm bestehen. Die schönsten Kirchen sehen wir in Los Sauces, San Rafael, La Mercad und Santa Rosa.
Die einfachen, eingeschossigen Häuser der Bauern sind fast ausnahmslos in der Farbe des sie umgebenden puderfeinen Staubes getüncht, eine verwaschene Mischung aus Rosa und Beige. Einige von ihnen fallen uns durch ihren besonderen Baustil auf: Sie verfügen auf der Frontseite über eine großzügige Veranda in der gesamten Breite des Hauses, die von mächtigen Säulen geziert wird. Ein Stil, den wir auf unserer Reise nirgendwo anders gesehen haben und der schon fast griechisch anmutet. Der Anteil der Mestizen und Indios an der hier lebenden Bevölkerung ist auffällig hoch, meist trifft man auf Angehörige des Volks der Diaguita-Calchaquíes. Es sind schöne Gesichter, die uns freundlich und neugierig anlächeln. Massentourismus gibt es in dieser Abgeschiedenheit noch nicht.
In vielen Ortschaften sehen wir schon von weitem rotleuchtende „Flicken“ in der ansonsten beigefarbenen Landschaft. Es ist gerade Erntezeit für die Chilischoten, die hier pimientos heißen, und die Früchte liegen in großen Flächen ausgebreitet zum Trocknen in der Sonne. Sie sind weniger scharf als ihre mexikanischen Verwandten.
Außerhalb der Dörfer liegen die Friedhöfe und wirken in der Landschaft leicht surreal. Die Gräber sind zum Teil schon sehr alt und verfallen, die neueren hingegen sind mit grellbunten Plastikblumen geschmückt, die weithin leuchten. Häufig liegen die letzten Ruhestätten auf kleinen Hügeln, damit es die Verstorbenen nicht so weit in den Himmel haben.
In der heraufziehenden Dämmerung ziehen große Raubvögel auf der Suche nach Mäusen, Chinchillas und anderen Kleintieren über dem Tal und den Bergen ihre Kreise, Papageien fliegen laut schnarrend in Scharen zwischen den Bäumen umher. Wir sehen zwei Füchse umherstreichen, und aus dem Tal klingt die durchdringende Musik der Frösche und Zikaden bis zu uns hinauf. Unglaublich, welchen Krach diese kleinen Tiere machen können. Die Nacht verbringen wir abseits der Piste in einem Kakteenfeld. Die haushohen Pflanzen werden von den Indigenas cardónes genannt, Wächter. Die Legende sagt, daß jeder cardón ein Verstorbener ist, der über das Hochland wacht. Irgendwann, wenn ihre Zeit gekommen ist, erwachen diese Ahnen und erheben sich, um das Blutbad der spanischen Konquistadoren zu rächen, welches diese einst angerichtet hatten.
Die Abendgeräusche der Tiere um uns herum halten noch lange an, aber als ich gegen zwei Uhr morgens vor die Türe trete, herrscht absolute Stille. Kein Laut ist zu hören, eine Stille, so dick, daß sie in den Ohren widerzuhallen scheint. Und über mir offenbart sich der klarste Sternenhimmel, den ich bisher gesehen habe. Myriaden von großen und kleinen Lichtpunkten funkeln um die Wette.
Am nächsten Tag setzen wir die Fahrt über die schönen ruhigen Hochtäler von Amaicha und Tafi del Valle fort, die wir bereits besucht haben. Es ist immer wieder das klare Licht, das die Fahrt durch die Anden zu einem besonderen Erlebnis macht, wenn die Schatten der Wolken über die Straßen und die mit Hartbüschelgras bewachsenen, weiten Ebenen wandern.

































