Archiv für den Tag: 14. Februar 2015

Türme des blauen Himmels

Vor uns liegt ein Highlight unserer Reise, auf das wir uns sehr freuen, der Parque Nacional Torres del Paine. Wir entscheiden uns, über den südlichen Zugang nahe des Lago Toro in den Nationalpark zu fahren und ihn über den nordöstlichen zu verlassen, um dann in Cerro Castillo gleich nach Argentinien auszureisen. Von Villa Telhuelche aus führt die Fahrt über Schotterpiste an der Höhle eines Milodóns vorbei, eines urzeitlichen Riesenfaultiers mit 3,5 bis 4 Metern Größe. Da der Kleine aber nicht zuhause ist fahren wir weiter.

Die Landschaft ist atemberaubend. Hier trifft die patagonische Pampa auf die Gipfel der südchilenischen Anden, steil aufragende Berge mit spitzen Granittürmen. Der höchste Berg ist der Cerro Paine Grande mit 3.050 Metern, umgeben von den Spitzen des Paine Chico, der Torres del Paine und der Cuernos del Paine – den „Hörnern“. Die Landschaft erinnert uns von Ferne ein wenig an die Dolomiten, ausgestanzt und in die abgeernteten strohgelben Felder der holsteinischen Seenplatte gesetzt.

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Noch außerhalb des Parks finden wir weit abseits der Straße einen Stellplatz oberhalb des Lago Toro. Die Rumpelei durch den Wald und den Hang hinauf lohnt sich; das Panorama ist unbezahlbar.

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Auf der einen Seite der Blick über den türkisfarbenen See, den Wald und das Bergmassiv, auf der anderen Seite auf die karge Pampa, über der sich in der untergehenden Sonne Lentis bilden, die wie außerirdische Ufos über dem See zu schweben scheinen.

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An der Porteria Serrano fahren wir am nächsten Tag in den Nationalpark. Paine bedeutet in der Sprache der Telhuelche-Indianer „himmelblau“, Torres del Paine also „Türme des blauen Himmels“.

Weite Teile des Parks sind vergletschert. Im Westen schiebt der Tyndall Gletscher seine Zunge in den See gleichen Namens; im Lago Grey etwas weiter nordöstlich schickt der Grey Gletscher weiß-blaue Eisberge auf Reise. Wir wandern zu einem kleinen Aussichtpunkt mit Blick auf den Gletscher und den See, und wie schon beim O´Higgins Gletscher fegt hier der Wind von den Bergen über den Gletscher hinweg talwärts, lädt sich an den Eismassen mit Kälte auf und pustet uns fast um.

P1220045Vor langer Zeit war die gesamte Region unter Gletschern begraben; was wir heute noch sehen können sind nur die kümmerlichen Reste des ursprünglich riesigen patagonischen Eisfeldes. Der O´Higgins-Gletscher, den wir mit dem Boot besucht haben, hat allein im Zeitraum 1986 bis 2010 insgesamt 70 qkm seiner Fläche eingebüßt und sich um sechzehn Kilometer zurückgezogen, daß entspricht rund zehn Prozent seiner Fläche.

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Unterhalb des verschneiten Paine-Massivs liegen zahlreiche türkisfarbene Seen und Lagunen malerisch eingebettet in Wiesen, Moore und alte Wälder. Auch wenn dies hier die Luvseite der Anden ist, kann das Wetter innerhalb von Minutenschnelle umschlagen, unvermittelt von Sonnenschein zu Hagelschauer oder Kälteeinbrüchen wechseln. Wir haben Glück und erwischen einen der wenigen beständigen klaren Tage im Jahr mit viel Sonne, blauem Himmel und Windstille. Immer wieder halten wir an, um zu Staunen. Dann entdecken wir vor dem Weiß des Bergmassives einen schwarzen Punkt. Es ist ein Kondor, der hier mit gespreizten Schwingen seine Kreise zieht. So plump die Kondore sich am Boden bewegen, so majestätisch sind sie in der Luft.

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Durch den 242.000 Hektar großen Park führen Schotterpisten mit vielen Steigungen und blinden Kurven. Je weiter wir das Bergmassiv umfahren desto mehr öffnet sich der Ausblick auf die Torres und Cuernos. Die Waldbrandgefahr ist während der Sommerzeit immens hoch und an vielen Stellen trifft man auf Warntafeln. Immer wieder haben in der Vergangenheit Touristen durch Unachtsamkeit verheerende Brände verursacht, zuletzt zur Jahreswende 2011/12, als innerhalb von wenigen Tagen über 17.000 Hektar im zentralen Teil des Parks abbrannten. Das Gesetz ahndet das Anzünden von Feuer mit drei Jahren Haftstrafe und einer Geldbuße in Höhe von 4.000 USD. Verursacht man einen Waldbrand, droht eine Haftstrafe von fünf Jahren und zusätzlich eine Geldstrafe von 16.000 USD.

Abends finden wir einen Stellplatz in einem kleinen ausgetrockneten Wasserloch, Panoramablick auf die nadelspitzen Granittürme inklusive. Als wir am nächsten Morgen beim Frühstück sitzen hören wir draußen plötzlich wildes Getrappel, dann wird es vor den Fenstern staubig. Wir sind von einer großen Guanaco-Herde mit vielen Jungtieren umlagert und die rund fünfzig Tiere lassen sich ohne Scheu unmittelbar neben dem Wagen nieder, wälzen sich im Staub und beäugen uns interessiert.

Nach kurzer Zeit hält den Grzimek in mir nichts mehr … ich muß raus aus dem Wagen. Ich achte darauf, tunlichst nicht zwischen die Tiere zu geraten, was nicht so leicht ist, da viele zwischen dem Büschelgras liegen und mit ihrer hellbraunen Fellfärbung schlecht zu erkennen sind. Prompt kommen hinter mir plötzlich zwei Hengste in halsbrecherischem Galopp, mit dem Kopf auf dem langen Hals Schwung holend, angejagt. Es ist Brunftzeit und die Tiere sind außer Rand und Band, da komme ich ihnen lieber nicht in die Quere.

Das Wetter hält sich überraschend gut und wir würden in dieser wunderbaren Landschaft gerne noch länger verweilen, aber nach ein paar Tagen müssen wir weiter.

Auf dem Weg aus dem Park Richtung Cerro Castillo sehen wir wieder einige Kondore, zunächst in der Luft, dann später mit Jungvögeln auch am Boden, wo sie sich am Kadaver eines Guanacos gütlich halten, während sein Artgenosse zusieht.

Volksfest

Zufällig passieren wir an einem Wochenende das kleine Dorf Villa Tehuelches an der Ruta 9. Schon von weitem sehen wir, daß die Straßen mit Bussen und Autos zugeparkt sind. Rauchfahnen hängen über dem Ort und verbreiten ein Aroma, welches uns augenblicklich das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Wir halten an, bugsieren den Mog über hohe Bordsteinkanten auf eine freie Grasfläche und mischen uns unter die Menge.

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Die nächsten Stunden verbringen wir mit Rodeo, bei dem es nicht gerade zimperlich zugeht, und musikalischen Vorführungen mit Tanz. Eine eigenwillige Mischung aus Tony Marshall und Ricky Martin, in einen glänzenden, für seine runde Körpermitte viel zu engen Anzug mit Kummerbund geschossen, unterhält lautstark und erfolgreich die Massen. Auch ein Schafscheerwettbewerb steht auf dem Programm, wobei die Schafe anschließend nicht unbedingt hübscher aussehen.

Überall stehen kleine und große Grills, auf denen Lamm oder auch ein ganzes Rind gebraten werden. Definitiv kein Ort für Vegetarier.

Punta Arenas

Wir verlassen den spitzen Zipfel Südamerikas und fahren mit den Ziel Punta Arenas zurück über die PanAm Richtung Norden. In Rio Grande, der, wie wir jetzt wissen, Welthauptstadt der Forelle, füllen wir Tanks und Kühlschrank auf und lernen im Supermarkt Jamie kennen, einen sehr sympathischen Briten, der in Schleswig-Holstein lebt und für ein belgisches Unternehmen unter anderem in Südamerika Unterwasser-Pipelines verlegt. Global Business. Sechs Wochen Arbeit, dann sechs Wochen Urlaub in der Heimat. Die Bezahlung ist Spitze, die Unterbringung im besten Hotel der Stadt ebenfalls gut, nur mit der Arbeitsmoral der Argentinier hapert es ziemlich, so klagt er uns sein Leid. Fehlt bei der Lunch-Versorgung mal ein Tütchen Mayonnaise, dann wird unerbittlich drei Tage gestreikt.

Wir übernachten am Grenzübergang San Sebastian neben den Zollhäuschen und rutschen am nächsten Tag rüber nach Chile. Hier endet der Asphalt und die Straße geht bis Porvenir in eine Schotterpiste über, die entlang der bahia inutil, der unnützen Bucht, bis an die Küste der Magellanstraße führt. Der ewige Wind Feuerlands fegt wie immer ungebremst über die lichte, fast gänzlich unbesiedelte Steppenlandschaft. Unsere Helden sind die Radfahrer, denen wir hier auf Feuerland immer mal wieder begegnen. Manche fahren nur eine kleine, aber nicht weniger anstrengende Teilstrecke, andere befahren die gesamte Strecke von Prudhoe Bay bis Ushuaia. Mit Minimalgepäck und eiserner Disziplin trotzen sie dem Wetter und erkämpfen sich Kilometer für Kilometer. Chapeau!

Die Kleinstadt Porvenir mit heute rund 5.000 Einwohnern wurde während des kurzen Goldrausches von in der Mehrheit kroatischen Einwanderern um 1880 errichtet. Wir planen, am nächsten Tag die einmal täglich verkehrende Fähre nach Punta Arenas zu nehmen, vorausgesetzt, sie fährt, denn bei zu starken Winden wird der Betrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt und es heißt abwarten.

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Wir finden einen schönen Stellplatz am kleinen Leuchtturm oberhalb der bahia chilote, aber in der Nacht frischt der Wind nochmals auf und der Unimog bekommt ordentlich was auf den Popo. Er schwankt wie eine Hamburger Hafenbarkasse bei Sturmflut und unsere Nacht ist entsprechend unruhig, aber wir heben nicht ab. Am nächsten Tag erfahren wir, daß die Windgeschwindigkeit 80 Knoten betrug, also Orkanstärke. Bis zum frühen Nachmittag ist der Wind soweit abgeflaut, daß die Fähre starten kann. Die wellengeschüttelte Überfahrt dauert zweieinhalb Stunden, aber wir werden mit Walfontänen und Delphinen belohnt, die vor dem Bug gutgelaunt ihre Kunststückchen vorführen.

Punta Arenas, die Hauptstadt der Region Magellanes und südlichste Kontinentalstadt der Welt, präsentiert sich mit einem sehr gepflegten Stadtzentrum, einer hübschen plaza, die zum Verweilen einlädt und einem sehenswerten Friedhof. Die Stadt wurde Mitte des 19ten Jahrhunderts als Militärstützpunkt und Strafkolonie gegründet. Ihre Blütezeit als Handels- und Hafenmetropole reichte bis zu Eröffnung des Panamakanals, dann ereilte sie das gleiche Schicksal wie so viele andere Hafenstädte auf der Route: Die Stadt wurde für die Schifffahrt redundant. Die wirtschaftliche Flaute sollte aber nur vorübergehend sein: Schnell entdeckte man, daß sich die Region bestens für die Schafzucht und Wollproduktion eignete. Mit dem Boom kam der Wohlstand und viele Siedler und Geschäftsleute aus Europa.

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Auf der Plaza de Armas steht eine beeindruckende Bronzeskulptur mit Magellan als zentraler Figur. An zwei gegenüber liegenden Seiten sitzen zwei bronzene Indianer, welche die später ausgerotteten Stämme der Ona und Aonikenk darstellen. Küßt man den großen, schon blanken Zeh eines der Indianer, dann kehrt man nach Patagonien zurück. Die gutgebaute Meerjungfrau besitzt gleich zwei Schwänze, die den atlantischen und den pazifischen Ozean symbolisieren sollen, welche von der Magellanstraße verbunden werden.

Viele Schafbarone der umliegenden estancias bauten sich in Punta Arenas repräsentative Stadtvillen, wobei Tapeten, Möbel, Polster, Teppiche, Waschtische, Kamine und selbst das Parkett für die Böden über den Atlantik aus Europa herbeigeschifft wurden. Auf dem Rückweg transportierten die Schiffe tonnenweise Schafwolle.

Der Friedhof der Stadt ist ein Kleinod und wurde zum chilenischen Nationaldenkmal erklärt, was offensichtlich ein sattes Eintrittgeld von den Lebenden rechtfertigt.

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In Form gestutzte Zypressen säumen die Alleen, an denen sich die Gräber und Mausoleen aneinander reihen. Der verflossene Ruhm der Gründerzeit ist unübersehbar. Manche Grabstätten sind verschnörkelt und verspielt, manche puristisch schlicht gehalten.

Viele Gräber tragen kroatische, italienische, polnische und schweizerische Namen. Auch zahlreiche deutsche Einwanderer sind hier bestattet und es gibt sogar eine gemeinsame Grabstätte unter einem Kreuz der „Deutschen Kranken Kasse“.

Ende der Kultur

Die ersten menschlichen Spuren auf Feuerland werden datiert auf 10.400 v. Chr. und die Wissenschaftler vermuten, daß diese Menschen während der letzten Eiszeit über die zugefrorene Magellanstraße von Norden kommend einwanderten. Charles Darwin, der 1834 mit der Beagle auch nach Feuerland kam und dafür bekannt ist, in der Regel vorurteilsfrei auf Menschen zuzugehen, hatte für die dortigen Ureinwohner überraschenderweise nur verächtliche Worte übrig. Er nannte sie „Untermenschen ohne geistiges Leben“, sicherlich Ausdruck des damaligen Zeitgeistes. Die europäische Öffentlichkeit stellte sie auf eine Stufe mit Tieren, und manch Eingeborener wurde gefangen genommen, per Schiff nach Europa befördert und dort auf Aufstellungen als „exotisches südamerikanisches Tier“ präsentiert.

Dabei hatten sich die Ureinwohner perfekt an die harten Lebensumstände an der Südspitze des Kontinentes angepasst. Die Selknam im Norden der Hauptinsel lebten als Fußjäger überwiegend von Guanakos, aber auch von Wasservögeln und Muscheln. Die Wassernomaden Yamana ganz im Süden in der Region des Beagle-Kanals zogen mit ihren Kanus, die aus mit Walsehnen vernähten Baumrinden gefertigt wurden, durch die Kanäle zwischen den feuerländischen Inseln und über das küstennahe Meer. Die Männer fertigten aus Walknochen Harpunen und jagten die nahrhaften und fettreichen Seelöwen, die Frauen tauchten im Meer nach proteinhaltigen Krebsen und Muscheln. Ihren nackten Körper schützten die Menschen vor Kälte und Regen einzig durch dickes Einreiben mit Seelöwenfett.

Ihr Leben verlief ruhig und störungsfrei, bis die Europäer und ihre Missionare die Bühne betraten. Besonders die Prediger der South American Mission Society richteten mit ihrer überzogenen Prüderie immensen Schaden an. Sie zwängten die Ureinwohner in Kleidungsstücke, zumeist alte, abgelegte Lumpen, die im feuchten Klima Feuerlands nie richtig trockneten. Lungenentzündung und Tuberkulose grassierten; viele Yamana erkrankten und starben. Die Landnahme, protegiert durch eine skrupellose Siedlungspolitik, war ebenfalls brutal: Für jeden getöteten ureinwohner wurde ein Kopfgeld bis zu einem Pfund Sterling bezahlt. Hinzu kamen die vielen, von den ab 1860 zunehmenden Siedlern eingeführten Krankheiten wie Pocken, Röteln und Masern, denen die Yamana, Selknam und Manekenk schutzlos ausgeliefert waren. Von den ursprünglich gezählten über 10.000 Yamana lebten 1883 gerade einmal noch 3.000, 1910 nur noch 350. In nur fünfzig Jahren hatten die Weißen es geschafft, die Ureinwohner bis auf einige wenige auszurotten. Heute leben noch eine Handvoll Nachfahren östlich von Puerto Williams auf der Isla Navarino; eine einzige Person beherrscht noch die Sprache Yaghan, die Reverend Thomas Bridges in seinem Wörterbuch auf der Estancia Haberton verewigte. Ein trauriges Schicksal, welches viele Urvölker dieser Welt teilen.