Schnullibulli

Hugo kränkelt mit einem bösen Husten etwas vor sich hin und so verschnaufen wir ein paar weitere Tage in Miraflores. Dann wird es auch für uns Zeit, weiterzuziehen. Ursprünglich hatten wir auf dieser Reise vor, nach gesamt Peru auch Ecuador zu besuchen, aber wir planen spontan um. Der Sommer kommt jetzt langsam von Norden auf die Südhalbkugel und wir werden mit ihm in den nächsten Monaten ein paar Tausend Kilometer durch Chile und Argentinien südwärts bis ans Ende des Kontinentes ziehen. Wir freuen uns auf viel Küste, Fjordlandschaften, Gletscher und die immergrünen Urwälder Patagoniens, auch wenn es dort viel regnet und die Winde auch im Sommer sehr stürmisch sein können. Chan-Chan wird auch in ein paar Jahren noch stehen und die Blaufußtölpel auf Galapagos werden bestimmt auch noch da sein, also können Nordperu und Ecuador noch ein bisschen warten.

Wir suchen uns unseren Weg aus der Stadt und kommen in ihrer Peripherie wieder an den endlosen pueblos jovenes, den „jungen Dörfern“, wie die Elendsviertel hier in Peru verharmlosend genannt werden, vorbei. Die provisorischen Hütten aus Schilf, Pappkarton oder Wellblech und viele angefangene, aber nie fertig gestellt Bauten aus Ziegeln umschließen die Stadt wie ein Ring und ziehen sich etliche Kilometer die tristen Wüstenhügel hinauf. Rund die Hälfte der Einwohner Limas lebt in diesen Elendsvierteln, die sich am Stadtrand immer weiter ausdehnen; die letzten Hütten sehen wir 25 Kilometer außerhalb des Stadtzentrums entlang der PanAm. Fließendes Wasser, Müllentsorgung oder Stromversorgung gibt es hier nicht, auch keine Straßen oder Beleuchtung. Wasser wird mit Tanklastwagen herbeigeschafft, gekocht wird mit Gaskartuschen und nachts zündet man Kerosinlampen oder Kerzen an. Die Wege zu Schulen, Krankhäusern oder zu Arbeitsstätten, sofern man eine hat, dauern oft Stunden. Die Menschen leben hier in ihren meist nur 10 – 15 qm großen Hütten illegal, werden aber von der Regierung, die keine bessere Lösung bieten kann, zwangsweise toleriert.

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Die Gründe für die Landflucht sind vielfältig: Katastrophen wie Erdbeben zwingen die Menschen zur Umsiedlung, die Bevölkerung auf dem Land explodiert bei stagnierender Wirtschaft oder die Gräueltaten des „Leuchtenden Pfades“ in den achtziger Jahren. Als das TV in den Dörfern des Hochlandes Einzug hielt war die Bewegung weg vom Land in die Stadt nicht mehr aufzuhalten. Die Medien gaukelten in ihren schwülstigen Telenovelas den Menschen ein Leben in Lima in Saus und Braus vor, und Hunderttausende packten ihre Bündel, nahmen ihr weniges Geld und brachen in die Hauptstadt auf in der Hoffnung, dort paradiesische Verhältnisse vorzufinden und „reich“ zu werden wie ihre Vorbilder aus dem Fernsehen. Dort angekommen mussten sie feststellen, daß es keine Arbeit gab und die Mieten für Wohnungen in der Stadt unbezahlbar waren. Oftmals wurde alles Ersparte für die Suche nach Arbeit ausgegeben und schon bald reichte das Geld nicht mehr für eine Rückkehr in ihr altes Dorf.

Wann immer wir auf unseren Reisen durch solche Elendsviertel kommen, egal ob in Indien, Burma oder Namibia, spüren wir den Stachel im Bewußtsein ganz besonders tief, fast schon so wie ein schlechtes Gewissen. Und das ist auch gut so, denn so bleiben wir sensibel.

Was trennt uns von einem solchen Leben in bitterster Armut? Nur der Zufall. Der Zufall, daß wir auf der Sonnenseite des Lebens geboren wurden. Wir haben nichts für unser Schnullibulli-Leben in Sicherheit und Konsum im Überfluß getan, außer vielleicht unsere Chancen gut zu nutzen. Wir hatten einfach das unverschämte Glück, zu einer wirtschaftlichen Boomzeit in einen immer wohlhabender werdenden Staat hineingeboren zu werden und in Elternhäusern aufzuwachsen, die es uns an nichts fehlen ließen. Dank der klugen Umsicht und auch persönlichen Opferbereitschaft unserer Eltern konnten wir eine Erziehung und Bildung genießen, die uns eine gute Positionierung am Arbeitsmarkt und Wettbewerbsfähigkeit verschafft hat.

Bildung ist der Schlüssel für Erfolg und Entwicklung und so ist sie für die Kinder in Bolivien und Peru wie auch anderswo die einzig nachhaltige Chance auf ein besseres Leben. Ohne zumindest eine grundlegende Schulbildung gibt es kaum eine Möglichkeit, dem Elend zu entkommen und die Armut wird von Generation zu Generation weiter vererbt. Wir hatten einfach verdammt viel Glück, und das sollten wir uns immer wieder vor Augen führen.

Dazu auch das Bewusstsein, daß unser heutiger Wohlstand, unsere vermeintliche wirtschaftliche Sicherheit, an einem hauchdünnen Faden hängt. Tag für Tag vollbringen wir, die Industrienationen, einen wahren globalen Hochseilakt, indem wir versuchen, alle relevanten Wirtschaftsräder, Stellschrauben und Märkte am Laufen und zumindest halbwegs in der Balance zu halten, aber platzt die Konsumblase, fällt das gesamte Schnullibulli-System im Nu wie ein Kartenhaus ineinander. Unser von Konsum getriebenes Wirtschaftssystem ist nicht unkaputtbar – siehe 2008, als sich die Schuldenberge vieler Volkswirtschaften auf untragbare Höhen aufsummiert hatten und das Kartenhaus erstmals gewaltig in die Knie ging.

Das alles interessiert die Menschen in den pueblos jovenes verständlicherweise herzlich wenig. Sie leben von einem Tag zum nächsten, immer damit beschäftigt, ihr Überleben zu sichern. Haarshampoo-Päckchen gibt es zum Beispiel portionsweise an kleinen Kiosken zu kaufen, weil die Menschen sich eine ganze Flasche nicht leisten können. Auch Zigaretten und Bonbons gibt es einzeln zu kaufen. Manche Menschen zwacken ein bißchen von ihrem Wasser ab und befeuchten sich ihre Haare, bevor sie aus ihrem „Haus“ gehen, um in der Öffentlichkeit zumindest den Anschein zu erwecken, frisch geduscht zu sein. Es geht nicht nur ums Überleben, sondern auch um die Würde des Menschen. Trinkwasser MUSS als Grundrecht für alle Menschen verankert sein. Für uns fast nicht vorstellbar, keines zu haben, darum sei es hier mal gesagt.

Reality bites, aber die Freude am Reisen wird uns dadurch nicht genommen. Wir wissen, wir können die Welt nicht vor sich selbst retten und wir können nicht jedem, der uns um Geld bittet, helfen, aber es gibt besonders Bedürftige, wie zum Beispiel alte Frauen ohne Familie oder Behinderte, die überhaupt keine Chancen auf Arbeit haben. Diesen Menschen helfen wir gerne, ihre nächste Mahlzeit zu sichern, denn das größte Problem von vielen Millionen Menschen auf unserer Welt sind immer noch Hunger und Durst.

Am 16ten Oktober ist übrigens Welternährungstag. Zahlen, Daten, Fakten zu dem Thema finden sich unter http://de.wfp.org/hunger/hunger-statistik

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