Schnappatmung

Nach einigen entspannten Tagen in Samaipata geht es über die alte Hochlandstraße weiter Richtung Cochabamba. Der unbefestigte Paß schraubt sich Meter um Meter die Ostseite der Anden hoch. Nur wenige Fahrzeuge, zumeist kleine LKW, kommen uns entgegen oder folgen uns. Hand aufs Herz: Die meisten überholen uns, da Unimoppel bei steilen Abschnitten im Schneckentempo kriecht. Es geht durch Nebelwälder mit kurios gewachsenen Bäumen, deren Äste dicht mit Moos, Bromelien und graugrünen Flechten bewachsen sind, die wie lange steinalte Bärte herabhängen. Mit seiner geheimnisvollen Anmutung und Stille wird der Nebelwald hier in Südamerika auch poetisch „Elfenwald“ genannt.

Die Nebelwälder der Anden sind wichtige Wasserspeicher Südamerikas. Sie binden Wolkenwasser, das sonst nicht abregnen würde. Die großen Ströme und Flüsse, die von den Anden durch den Kontinent ostwärts zum Atlantik fließen, entspringen alle in den Nebelwäldern der Anden. Leider gehören auch diese zu den gefährdetsten Ökosystemen unserer Welt. Die Ursachen sind weithin bekannt: extensive Viehwirtschaft, Anbau von Kaffee, Koka, Zitrusfrüchten, Nutzholzeinschlag und Klimawandel. Biologen schätzen, dass in zehn Jahren die Nebelwälder der Anden und damit auch die Elfen in Südamerika verschwunden sein werden.

Je höher wir fahren, desto mehr dämpft der Wolkennebel das Sonnenlicht und irgendwann sind auch wir im Dunst verschwunden. Wir wissen, daß es neben der Fahrbahn Hunderte Meter senkrecht abwärts geht, aber wir sehen den Abgrund nicht.

Dann lichtet sich der Nebel und wir erreichen erstmals auf unserer Reise die 3000-Meter-Marke. Die Sicht ist nach allen Seiten frei und die Nebelwälder werden abgelöst durch kargen Baumbewuchs und Kakteenfelder.

Wir sind bis zum Horizont umgeben von einem Ozean aus Bergen unter einem strahlend-blauen wolkenlosen Himmel. Die Sonne brennt in dieser Höhe unbarmherzig und die Luft ist spürbar dünner. Wir fahren und fahren und hinter jedem Paß folgt ein neuer Paß. Tageshöchstmarke sind 3.700 Meter, und wir wundern uns, daß in dieser Höhe nicht nur Menschen leben, sondern auch noch Ackerbau betreiben. Überall sehen wir Felder mit Weizen, Raps, Mais, Kartoffeln und Gemüse. Selbst Steilhänge mit 50 Grad oder mehr Neigung werden hier auf dem Altiplano noch bewirtschaftet, wie seit jeher mit dem von Ochsen gezogenen Pflug, da jeder Traktor umfallen würde. Die wenigen Ortschaften auf unserer Route sind klein, bestehen meist nur aus einer Handvoll niedriger Ziegelhäusern. Die alles dominierende Farbe in dieser Höhe ist beige-braun, ab und an unterbrochen von lila blühenden Bäumen.

Insgesamt befahren wir an diesem Tag sechs oder sieben Pässe mit einer Höhe von mindestens 3.000 Metern. An einer Mautstelle auf einer Passhöhe erfahren wir, daß eine Weiterfahrt am gleichen Tag nicht mehr möglich ist, da der Paß aufgrund seiner Gefährlichkeit ab 16.00 Uhr gesperrt wird. Es ist 16.35 Uhr, heute also nichts mehr zu machen. Als ich zum Wagen zurückkehre höre ich unvermutet hinter mir eine Stimme in akzentfreiem Deutsch „Düsseldorf“ sagen. Erstaunt drehe ich mich um und sehe eine junge Frau mit zwei Jungen, die auf unserer Autokennzeichen zeigt. Auf mein verblüfftes Gesicht hin erklärt sie mir, daß sie hier oben geboren, aber als sehr kleines Kind zur Adoption freigegeben wurde, in Bonn bei deutschen Eltern groß geworden ist und nun, zum zweiten Mal in ihrem Leben, ihre biologische Mutter hier in dieser Abgeschiedenheit besucht. Ein größerer Kontrast ist fast nicht vorstellbar. Was muß in dieser jungen Frau vorgehen? Dieser Gedanke soll mich den ganzen Abend über nicht mehr loslassen.

Wir fahren unseren Wagen an die Seite und müssen die Nacht unfreiwillig hier in der Einsamkeit auf 3.000 Metern verbringen. Pro Tausend Meter Höhe fehlen dem Körper ungefähr 10% Sauerstoff, sagt man. Heißt, uns fehlen ca. 30%. Dazu habe ich durch den Staub und die trockene Luft eine Schnupfnase mit geschwollenen Schleimhäuten, so daß Schnappatmung und Beklemmungen die Folge sind. Ich schnaufe und hechle mich irgendwie durch die Nacht und bin froh, als es am nächsten Morgen weiter nach Cochabamba geht.

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