Große Herzen

Wir lassen das Vale Europeu mit seinen großen deutschen Einwanderersiedlungen Blumenau, Pomerode, Joinville und den vielen verlockenden Bierbrauereien links liegen und fahren an der boomenden Industrie- und Universitätsstadt Curitiba vorbei in den Bundesstaat Paraná, einen der wohlhabendsten Bundesstaaten Brasiliens. Curitiba genießt heute den Ruf als Capital Ecológica, also Öko-Hauptstadt, da sie als erste Stadt des Landes Umweltschutz zum Leitthema ihrer Kommunalpolitik erhob, inklusive Mülltrennung und Wertstoffsammlung. Gegen den massiven Protest der Autofahrer wurde hier auch bereits Anfang der 70er Jahre die erste Fußgängerzone eingerichtet.

Die BR 277, welche Curitiba mit unserem Ziel Foz de Iguacu verbindet, führt uns über eine fast ausschließlich landwirtschaftlich genutzte Hochebene (800 – 1.300 m). Endlose Flächen Mais, Soja und Weizen ziehen sich bis zum Horizont über die sanften Hügel, nur ab und an unterbrochen von den gewaltigen Getreidesilos der Agrargenossenschaften, die wie silbrig glänzende Ufos von einem anderen Stern in der Landschaft sitzen und so gar nicht dort hinpassen wollen.

Wie immer auf langen Überlandfahrten suchen wir bei Anbruch der Dunkelheit einen Platz an einer der großen 24/7 Tankstellen und schummeln unseren Dicken zwischen die großen Trucks. Dort sind wir vor eventuellen Übergriffen sicher, denn die LKW-Fahrer passen gut aufeinander auf. Bei einem dieser Stopps werden wir, wie schon so oft, angesprochen. Miguel lebt in der Nähe, seine Eltern stammen ursprünglich aus der Ukraine und er muß seinen mit Sojaöl beladenen 30m-Truck noch in der Nacht von Paranaguá nach Cascavel bringen. Zeit für einen Plausch ist in Brasilien aber immer.

Als Miguel erfährt, daß wir aus Deutschland kommen, hüpft er ganz aufgeregt auf dem Parkplatz umher und schnappt sich sein Handy. Dann reicht er es an Hugo weiter, der – ganz verblüfft – auf Deutsch mit seinem Gesprächspartner am anderen Ende sprechen kann. Minuten später haben wir eine Einladung nach Palmital, rund 80 km entfernt und so gar nicht an unserer Strecke nach Iguacu gelegen. Wir schlafen eine Nacht darüber und entscheiden am nächsten Morgen spontan, uns darauf einzulassen und den „kleinen Umweg“ zu fahren, obwohl wir nicht sicher sind, ob die Einladung ernst gemeint war.

Palmital ist in keinem unserer beiden Reiseführer verzeichnet und nicht ahnend, wer und was uns dort erwartet, machen wir uns auf den Weg. Eineinhalb Stunden später erreichen wir den kleinen Ort, fahren gespannt an der uns genannten Adresse vor.  Drei beeindruckende Hunde bewachen bewegungslos wie große Porzellanfiguren den Eingang eines schmucken Hauses. Wir klingeln … und werden bereits von Ronny erwartet. Er hatte früher mit uns gerechnet und bereits telefonisch über Miguel versucht herauszufinden, wann wir wohl ankommen würden. Kurze Zeit darauf sitzen wir schon beim gemeinsamen Mittagessen in Ronnys und Zenis stilvollem Eßzimmer.

Vor Zenis und Ronnys Haus

Vor Zenis und Ronnys Haus

Wir haben das große Glück und Vergnügen, mit Ronny und seiner Familie auf eine Spezies zu treffen, die in unserer profit- und effizienzorientierten „Welt“ bereits unter den Artenschutz fallen müßte, da sie vom Aussterben bedroht ist: Menschen mit riesengroßem Herzen. Was wir in den nächsten vier Tagen erleben dürfen rechtfertigt die Tränchen, die beim Abschied dann unvermeidlich fließen. Wir sind als Fremde, die mal kurz „Hallo“ sagen wollten, gekommen und gehen als Freunde auseinander.

Ronnys Eltern sind als deutsche Einwanderer nach Brasilien gekommen; er selbst hat 12 Jahre in Süddeutschland gelebt und gearbeitet, bevor seine (Herzens-)Entscheidung fiel, ganz nach Brasilien zurückzukehren. Er betreibt heute in Palmital erfolgreich ein Recyclingunternehmen und hat damit in der Region nicht nur Arbeitsplätze geschaffen, sondern auch Bewußtsein in der Bevölkerung. Neugierig wie wir sind fragen wir, ob sich das in einem so kleinen Ort rechnet. Palmital hat inklusive der verstreut liegenden Fazendas im Umland gerade einmal 8.000 Einwohner. Ronny gibt uns ein Beispiel, das uns überrascht: Pro Monat werden dem Recyclingzyklus allein 5 Millionen Plastiktüten aus Supermarkteinkäufen wieder zugeführt. Der Wahnsinn – Von „Jute statt Plastik“ hat hier noch niemand etwas gehört.

Umweltschutz, Wiederverwertung von Ressourcen, Bioanbau von Lebensmitteln und eine saubere Trinkwasserversorgung sind Themen, die Ronny und seiner Familie am Herzen liegen. Nebenbei züchtet er auf 2 ha Land mit großer Leidenschaft allerhand Pflanzen: Wir finden Bananen, Orangen, Bohnen, Matetee, Blumenkohl, japanische Weintrauben, Zironengras und unzählige Heilkräuter – alles Bio natürlich. Wobei er alles andere als ein „Krauter“ ist: Modern, dynamisch, zielorientiert; ein Geschäftsmann mit ausgeprägtem Umweltbewußtsein und Pack-an-Mentalität. Seine Geschäftsideen sind nicht nur pragmatisch, sondern auf Nachhaltigkeit angelegt. Ehrenamtlich kümmert er sich darüber hinaus um die Wiederaufforstung der Region. In den 70er Jahren beabsichtigte die brasilianische Regierung, aus Paraná die Kornkammer ganz Brasiliens zu machen. Im Zuge dessen wurden landwirtschaftliche Projekte finanziell stark gefördert und große Flächen des Waldbestandes rigoros abgeholzt. Inzwischen hat man den Fehler erkannt und die Farmer jetzt verpflichtet, mindestens 20% ihres Landes wieder aufzuforsten. Ronny engagiert für die Pflanzarbeiten teilweise ganze Schulklassen, die dann auf einer Farm nicht 20 oder 200 Bäume setzen, sondern mal eben 2000 und mehr! Als Großfarmer gilt man hier übrigens erst ab 100 ha Land…

Ronnys Bruder Hanzi, der mit seiner Familie zwei Häuser weiter im ehemaligen Elternhaus – ganz traditionell aus Holz gebaut und wunderschön – lebt, beliefert die verstreut und versteckt liegenden Fazendas im Umland mit Lebensmitteln und benutzt dazu einen uralten Jeep, umgerüstet mit einem Opel-Motor, wiederum umgerüstet auf Gasbetrieb aus Flaschen. Für uns abenteuerlich!

Unterwegs mit Hansi

Unterwegs mit Hansi

Wir werden von Hanzi eingeladen, eine Tour zu begleiten und ganz klar … daraus wird natürlich ein Grillevent! Über Erdpisten mit teilweise gewaltigen Steigungen geht es eine Stunde lang durch die wunderschöne grüne Landschaft, zu einigen einsamen Höfen und dann wird irgendwo im Nirgendwo ein Feuer angezündet. Auf großen Spießen grillen wir mit grobem Salz eingeriebene Steaks und Maiskolben, dazu gibt es Brot. Einfach nur lecker!

Grillen in Palmital

Grillen in Palmital

Hugo bekommt als Dessert vom Wettergott noch einen Flug mit dem Gleitschirm serviert und freut sich den Rest des Tages ein Loch in den Bauch.

Hugo fliegt bei Palmital

Hugo fliegt bei Palmital

Eigentlich wollen wir schon längst wieder „on the road“ sein, aber Ronny mit seiner charmanten und überzeugenden Art „nötigt“ uns geradezu zu bleiben. Wir „müssen“ noch unbedingt gemeinsam eine echte Feijoada essen gehen, und so sitzen wir am nächsten Tag im Restaurant und lassen uns das brasilianische Nationalgericht schmecken. Ein deftiger Eintopf, den einst afrikanische Sklaven aus Essensresten der Herrenhäuser zusammenmengten. Grundlage sind schwarze Bohnen und scharfer Pfeffer, dazu Fleisch von Schwein und etliche Gewürze. Alles zusammen wird einige Stunden gekocht und mit Reis, Farofa und Orangenscheiben serviert. Uns schmeckt es sehr gut und wir langen ordentlich zu, sind danach aber ziemlich geschafft. An ein Weiterfahren ist nicht zu denken, also verschieben wir es auf den nächsten Tag.

Hanzi hat hinter seinem Haus einen wahren „Paradiesgarten“ mit unzähligen Obstbäumen und Gemüsebeeten. In der satten terra roxa wächst einfach alles: Orangen-, Mandarinen-, Limonenbäume, die sich vor Früchten biegen, Bananen, Mangos, Erdbeeren, Rote Beete undundund. Gemeinsam pressen wir frischen Zuckerrohrsaft und dürfen von allem, was wächst, probieren. Darüber hinaus werden wir mit Zitrusfrüchten so reich beschenkt, daß im Unimog die Schubladen aus allen Nähten platzen. Skorbut wird an Bord so schnell nicht ausbrechen.

Beim Zuckerrohrpressen

Beim Zuckerrohrpressen

Unimoppel ist inzwischen so bekannt wir ein rosa Elefant und der halbe Ort ist schon zum Schauen und Plauschen gekommen. Richy, der 6jährige Sohn von Ronny und Zeni, kennt sich mit allen Klappen und Kläppchen an Bord inzwischen bestens aus und übernimmt selbstbewußt die Führungen für die Dorfjugend. Als Hugo am nächsten Tag mit Ronny und Hansi zu einem zweiten Flug aufbricht fahren einige der Dorfbewohner spontan mit. Ihre Begeisterung ist grenzenlos.

Nach der Landung

Nach der Landung

Abends wartet Ronny dann mit dem nächsten kulinarischen Highlight auf: Über dem offenen Feuer vier Stunden lang geschmorte Rinderrippchen, die der Größe nach zu urteilen auch von einem Dinosaurier stammen könnten. Wir bekommen langsam Angst, daß Ronny und Zeni schon die Adoptionspapiere beantragt haben und wir gar nicht mehr aus Palmital wegkommen, sondern in Brasilien bleiben. Sie wollen uns einfach nicht gehen lassen … und dem Kloß in unserem Hals nach zu urteilen möchten wir eigentlich auch gar nicht gehen.

Am nächsten Tag eisen wir uns schweren Herzens los und starten Richtung Iguacu. Ronny und Hanzi: Wir danken Euch für die unvergeßlichen Tage in Palmital und die wunderbare Zeit mit Euch! Wir haben Euch und Eure Familien in unser Herz geschlossen! Muitos Bejios!

PS: Miguel, Du bist an allem „Schuld“ – vielen herzlichen Dank auch an Dich. Wir haben Dich vermißt!!!

Vor Hansis Haus

Vor Hansis Haus

3 Gedanken zu „Große Herzen

  1. Peter Rogge

    Hallo Ihr Zwei Glücksritter, ich weiß jetzt endlich was richtiges Fernweh bedeutet auch wenn ich derartige Begegnungen bei meinen vielen Besuchen in Kanada auch genießen darf. Woher kommt diese unglaubliche Herzlichkeit Fremden gegenüber? Warum klappt das in unseren Breitengraden nicht so richtig? Gut wir können vieles nicht vergleichen aber Mensch bleibt Mensch. Ich freu mich schon sehr auf die weiteren Episoden und ja, in 3 Wochen bin auch ich bei „netten Freunden“ in Canadas Westen.

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  2. Ulrike und Martin

    Hey ihr Zwei,
    interessante Reiseberichte, besonders der von Miguel und seinem Bruder Ronny. Schon interessant was für Menschen man so zufällig auf einem Parkplatz trifft Sind mal gespannt was für Eindrücke Ihr von der
    WM bekommt, wenn Ihr überhaupt etwas davon bemerkt. In Deutschland wird zurZeit sehr viel darüber
    berichtet, vor allem über unsinnige Bauten, viel zu hohe Ausgaben und schlechte Arbeitsbedingungen.
    Und das alles nur, damit der kleine korrupte Zwerg aus der Schweiz sich im Erfolg sonnen kann, kotz…….!!
    Have a nice Trip, take Care of you, we’ll keep in Touch !!!

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